Der Apothekenkrimi
DER HEILIGE VITUS – TEIL 2
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Rieke fuhr die Kassen hinunter, schloss die Geldkassetten in den Tresor ein und räumte noch schnell die liegengebliebenen Heuschnupfensprays in die Sichtwahl zurück. Dabei zerrte sie einen Arm bereits aus dem Kittel, denn heute hatte sie es eilig. Britta brütete in ihrem Büro noch über den Bestellungen und nahm nur am Rande die Geräusche aus der Offizin wahr. Ein wenig stutzig wurde sie, dass es so schnell ruhig wurde. Komisch, sonst verabschiedete Rieke sich immer von ihr. Sie erhob sich vom Schreibtisch und ging in den Verkaufsraum, um durch die Scheibe nach draußen zu sehen.
Auf dem Kopfsteinpflaster vor dem Apothekenschaufenster stand ihre PKA und sah einem jungen blonden Mann ziemlich tief in die Augen, wie Britta fand. Sie hatte gar nicht gewusst, dass Rieke jemanden kennen gelernt hatte… warum auch nicht. Bloß weil die junge Frau ein wenig zurückhaltend war und sich lieber im Hintergrund hielt, konnte sie ja wohl einen Freund haben. Jetzt legte der Junge den Arm um sie und beide gingen in Richtung Innenstadt. Britta lächelte. Sie mochte es, wenn die Menschen um sie herum glücklich waren.
„Komm, ich lad dich ein.“ Rieke war völlig überwältigt. Dieser Yannick war so… fürsorglich zu ihr. So, als ob sie die tollste Frau der Welt wäre. Dabei wusste sie ganz genau, dass dies nicht stimmte. Ihren ersten und bisher einzigen Freund kannte sie noch aus der Schule; sie waren seit der neunten Klasse zusammen und manchmal hatte sie sich mit ihm wie ein altes Ehepaar gefühlt. Im letzten Jahr war er nach Berlin entschwunden, wo ihm seine Schraubenfirma ein duales Studium angeboten hatte. Er sollte als Führungskraft aufgebaut werden, hatte er ihr total euphorisch erzählt, hatte seine Klamotten ins Auto geworfen und ward nicht mehr gesehen.
Seitdem hörte Rieke nur noch sporadisch von ihm, bekam nichtssagende Whatsapp-Nachrichten, die sie mittlerweile nicht mehr beantwortete. Und jetzt Yannick. So alt wie sie, mit wuscheligen blonden Haaren und nebelgrauen Augen, die von dichten schwarzen Wimpern umrahmt waren. Wie der guckte. Wie der sie anguckte… „Rieke?“ Sie tauchte auf aus ihrer Phantasiewelt und versuchte sich zu konzentrieren. „Was willst du essen?“ Rieke wollte gar nichts essen, sie hatte keinen Hunger. Sie wollte nur hier sitzen und Yannick anstarren. Warum hatte er sich nochmal mit ihr treffen wollen? Das war ja ganz schön heftig heute Nachmittag, hatte er geschrieben. Hast du heute Abend Zeit? Ich muss einfach mit jemandem drüber reden.
Klar hatte sie Zeit. Seine Hand schob sich über den Tisch neben ihre. „Weißt du was? Irgendwie ist mir komisch im Magen.“ „Ja“, sagte sie. „Mir auch.“ Und dann blickten sich die beiden an und Rieke dachte: Das gibt’s doch nicht… „Was ein Glück, dass wir unsere Nummern ausgetauscht haben, als der Krankenwagen weg war“, sagte er mit weicher Stimme. Sie erwiderte nichts, denn sie wusste nicht so genau, was er damit meinte. „Wollen wir uns zusammen eine Pizza bestellen? Ich erzähl dir dann, was sie herausgefunden haben.“ „Du meinst, weshalb Emma bewusstlos wurde?“ „Ja, genau.“ Yannick legte sonst im Club auf, das wusste sie. Er war immer von Mädchen umschwärmt, das war wohl so ein Naturgesetz bei DJs.
Nie hätte Rieke sich in seine Nähe getraut, dazu war sie viel zu schüchtern. Deshalb überfiel sie ein leichter Schwindel, als er nun langsam mit seinen Fingern ihre Hand umschloss und sagte: „Aber lass mich eines sagen: So schlimm das heute gewesen ist – wir haben uns getroffen. Und wer weiß, vielleicht hat das ja was zu bedeuten.“ Rieke, die bereits bis über beide Ohren in den hübschen DJ verliebt war, nickte wie besoffen. Yannick lächelte. Leider platzte in diesen verzauberten Moment der Kellner, der urplötzlich und wie aus dem Boden gewachsen neben ihr stand und mit leichtem italienischen Akzent in der Stimme fragte: „Haben Sie schon was ausgesucht? Nein? Dann komme ich nochmal wieder.“ Und er schlurfte etwas unlustig zum Nebentisch, an dem ein Mann saß, der ein wenig dem jungen George Michael ähnelte, dessen Haare ein wenig zu lang waren und der lächelnd ein Mineralwasser orderte. Bitte ohne Eis und mit Zitronenscheibe.
Jaqueline de Schreurs sah angewidert zu, wie ihr Mann sich den dritten Cola-Whisky eingoss. Auf dem großen Flachbildscreen lief eine Dokumentation über den Ersten Weltkrieg, und gerade zeigte man eine Szene, in der so ein armes Militärpferd von einer Granate getroffen wurde. Jaqueline wurde leicht übel. Da lag der arme Gaul nun und wand sich und alles war so… eklig. „Ja, schau nur hin, mein Kind“, sprach Hubert de Schreurs und ließ seine bereits ein wenig glasigen Augen über sie gleiten, mit leicht lüsternem Anstrich. „Es kann nicht schaden, wenn du dir das ansiehst. Ich bin mir sicher, dass deine Allgemeinbildung in deinem Zuhause ein wenig zu kurz gekommen ist.“ Dass er das immer wieder betonen musste. Hubert inszenierte sich gern als Retter, der die arme Jaqueline aus dem Plattenbau geholt und ihr damit ein neues Leben ermöglicht hatte.
Stimmte ja irgendwie auch. Nur dass sie es unerträglich fand, dass ihr viel älterer Gatte ihr stets Lektionen in Sachen erteilte, die er für wichtig hielt. Sie solle den Spiegel lesen und nicht ihre komischen Weiberzeitungen. Sie solle lieber ein paar Kurse an der Abendschule belegen und vielleicht sogar ihr Abitur nachmachen statt sich mit ihren Freundinnen zu treffen und viel zu viel Kosmetik einzukaufen. Pah! Wenn Jaqueline das hörte, verdrehte sie innerlich die Augen. Freundinnen? Die waren alle in Berlin geblieben. Und hier, im hintersten Westerwald, wo alle das „R“ so komisch rollten beim Sprechen, würde sie bestimmt keine von denen besuchen. Ja, die Girls hatten sie damals bei einer letzten Party derart verabschiedet, dass man hätte meinen können, sie solle lebendig verbrannt werden. Die hatten gar nicht so unrecht, dachte Jaqueline. Jetzt stellte Hubert sein geschliffenes Kristallglas auf den Wohnzimmertisch, dass es knallte.
Seine Feinmotorik war bereits ein wenig angegriffen. Wie hübsch sie doch war, seine kleine Frau. Diese goldenen Haare und die zierliche Figur. Das glitzernde, ärmellose Kleid und die Schuhe… dass sie auch im Haus auf High Heels herumlief, machte ihn immer wieder scharf. Er klopfte sich leicht an die Brust und merkte nicht, dass er dabei sabberte. „Komm zu deinem Hubertchen, mein Schatz.“ Und als Jaqueline folgsam das goldblonde Köpfchen an seinen Oberkörper legte, dachte sie daran, dass ihr Gatte sie irgendwie an einen Gorilla erinnerte. Wie hießen die noch? Silberrücken? Na, das stimmte ja. Und Jaqueline ergab sich in ihr Schicksal.
Als Britta am nächsten Morgen die Apotheke öffnete – öffnen musste, denn Annette war noch nicht da - stieß sie auf Frido, der bereits am Eingang wartete. Frido von der Leyden, Neffe ihres Mannes Robert, gehörte buchstäblich zur Familie. Britta und Robert waren Pateneltern für den kleinen Maximilian; man war einander eng verbunden und Britta kannte sich in den verschlungenen Gängen der Grimmburg bald besser aus als im Innern ihrer Ziehschubladen. Als sie Fridos Gesicht sah, schwante ihr nichts Gutes. „Britta, es tut mir leid, sie kann nicht kommen“, sagte Frido und senkte bekümmert den Blick. „Ach, ist es wieder soweit.“ Britta wusste Bescheid. Wie die Herzogin von Cambrigde, hatten sie damals beide darüber gekichert, über dieses unstillbare Schwangerschaftserbrechen, unter der die Frau des englischen Thronfolger Williams ebenfalls litt, bei allen drei Kindern.
Also, gekichert hatten sie erst später, nach Ablauf der ersten drei Monate, nach der die Hypermesis verschwunden war. „Ich werde sie dann wieder für die Nachmittagsschichten einteilen, so haben wir es damals auch gemacht“, sagte Britta. „Manchmal hatten sich die Beschwerden in der zweiten Tageshälfte gelegt.“ „Ja, mach das“, erwiderte Frido. „Es tut ihr sehr leid.“ „Bestell ihr bitte gute Besserung. Bist du extra deswegen gekommen?“ „Ich musste sowieso zu deinem Mann.“ „Er ist noch nicht da. Komm doch erstmal rein, dann mach ich dir einen Kaffee.“ Und während Frido hinter Britta hertrottete, tauchte plötzlich der Neue auf. Er kam um die Ecke und stand plötzlich da, den weißen Kittel über dem Arm, eine Aktentasche in der Hand. „Hallo“, sagte er und lächelte auf diese unbestimmte, freundliche Weise, die Britta schon beim letzten Mal aufgefallen war. Wo hatte sie so ein Lächeln bloß schon einmal gesehen?
„Guten Morgen! Die Reinigung hat aber früh aufgemacht“, sagte sie. „Stimmt. Ich bin auch sehr froh darüber.“ Er spähte in die Apotheke. „Sie sind allein?“ „Ja“, sagte Britta. „Sie schickt der Himmel, gerade ist meine PTA ausgefallen.“ Jetzt sag ich das schon zum zweiten Mal, dachte sie. Dass ihn der Himmel schickt. Weil Frido fragend auf den Gast schaute, beeilte sie sich, ihn vorzustellen: „Frido, das ist Michael Vitus. Er arbeitet als Pharmazie-Praktikant das nächste halbe Jahr bei mir. Herr Vitus, das ist mein—äh… Schwager Frido von der Leyden.“ „Angenehm.“ Der Neue schüttelte seine Hand. „Sagen Sie doch bitte alle Michael zu mir.“ Frido betrachtete ihn mit Interesse. „Wie heißen Sie? Vitus? Na, das ist ja ein Zufall.“ Die drei gingen hintereinander her ins Backoffice, wo Rieke bereits die ersten Sendungen verbuchte und in weiser Voraussicht die Kaffeemaschine gestartet hatte. Und als Britta den Milchschaum über den Tassen verteilte, ging ihr auf, was Frido da eben gesagt hatte. „Wieso kein Zufall? Wie meinst du das?“ Frido blickte über den Tassenrand in die großen, dunkelbraunen Augen des neuen Mitarbeiters.
„Na, Ihr Name. Vitus, das ist doch der Apothekenheilige, nicht wahr?“ Michael nickte und lächelte ein wenig. „Das haben meine Professoren auch immer zu mir gesagt.“ Britta kramte in ihrem Gedächtnis, aber christliche Legenden waren im Fach Pharmaziegeschichte immer ein wenig zu kurz gekommen beziehungsweise nie aufgetaucht. „Was war mit ihm?“ fragte sie. „Der heilige Veit oder auch Vitus, den habe ich als Holzschnitt in einem unserer Heiligenlexika in der Bibliothek. Mama hat ja für Religionsgeschichte ein Faible. Ich fand das als Bub faszinierend: Weil er seinem christlichen Glauben nicht abschwören wollte, hat man ihn den Löwen vorgeworfen. Doch die dachten nicht daran, ihn zu verspeisen, leckten ihm die Füße und hielten ein Nickerchen. Dann versuchte man als letztes Mittel, ihn in einen Kessel mit siedendem Öl zu stecken. Doch da kamen dann zwei Engel, zogen Vitus heraus und brachten ihn auf eine einsame Insel.“
Michael lächelte wissend und Britta fragte beeindruckt: „Und was ist dann mit ihm geschehen?“ „In der Geschichte stand: Er übergab seine Seele dem Himmel“, sagte Frido. „Vielleicht hatte er den Kessel mit dem Öl doch nicht so schadlos überstanden. Eine fromme Witwe fand dann den Leichnam und hat ihn christlich begraben.“ „Boah.“ Und Britta sah Michael zu, wie er sich den Kittel überstreifte. Ein Lichtstrahl traf ihn von hinten und ließ seine blonden Haare aufleuchten. Irgendwie sah es aus, als habe er plötzlich eine Art Gloriole um den Kopf.
Rieke gähnte und hielt sich ein wenig am Tisch fest. Die standen da hinten schon ewig und quasselten miteinander. Gut, dass im Moment kein Kunde da war. Sie zog die Medikamentenpackungen über den Scanner und prüfte, ob auch alles dabei war. Sie war da immer sehr gewissenhaft. Manche PKA stellten den Computer einfach auf „Ware erhalten“ und fertig waren sie. Doch nicht sie, Rieke. Obwohl ihre Gedanken heute ein wenig abschweiften. Es war aber auch zu interessant gewesen, Yannick zuzuhören. Wie der sich ausdrücken konnte! Sie hatten sich eine Pizza Margherita geteilt und er hatte ihr von seinem Leben erzählt. Er würde jetzt noch zwei Jahre auflegen, dann hätte er genug verdient und würde an die TH gehen und Maschinenbau studieren. Hatte er fest vor.
Seine Eltern könnten ihm nichts geben, die wären arm, aber echt lieb und wünschten ihm nur das Beste. Rieke fühlte sich ihm verbunden, denn auch ihre Eltern waren nicht mit weltlichen Gütern gesegnet, aber dafür hatten sie viele Kinder…. Doch alle Geschwister waren was geworden. Naja, vielleicht bis auf das Nesthäkchen Bastian, der bummelte ein bisschen herum. Ging oft feiern und hing in Bars rum und hatte keine richtige Arbeit. Ach, geschenkt, ein schwarzes Schaf hatte schließlich jeder in der Familie. Yannick hatte sich mit großem Interesse Riekes Geschichte angehört. Er guckte sie dabei an, als wäre es überhaupt die interessanteste Geschichte der Welt. Und danach guckte er immer noch und Rieke hätte vor Verlegenheit beinahe ihr Weinglas auf Ex getrunken. Und schließlich sagte er, sie solle ihm nicht böse sein, er habe sich einfach auf der Stelle in sie verliebt, am Nachmittag, in diesem Eiscafé, als sie sich beide über die bewusstlose Emma beugten.
Ach ja, Emma! Die Story hatte sie über all den Schmetterlingen im Bauch ja total vergessen. Jetzt rauschten die drei an ihrem Computer vorbei und der Neue blieb ruckartig stehen. Irgendwo hatte sie ihn schon mal gesehen, aber sie kam nicht darauf, wo. Er lächelte sie unheimlich freundlich an, und wenn Rieke nicht gerade immun dagegen gewesen wäre, hätte das was in ihr ausgelöst. „Hallo“, sagte er. „Ich bin Michael. Ich bleibe jetzt ein bisschen bei Ihnen.“ „Tag.“ Rieke grinste wie ein Schaf. „Herzlich willkommen. Hoffentlich gefällt es Ihnen bei uns.“ „Da bin ich mir ganz sicher.“ Er schüttelte herzhaft ihre Hand und sagte: „Hoffentlich mache ich am Anfang nicht allzu viel falsch. Ich bin da auf ihr Wohlwollen und Ihre Mithilfe angewiesen.“ „Natürlich“, sagte sie, „natürlich helfe ich, wo ich kann.“ „Stimmt es, dass es gestern im Eiscafé einen Vorfall gegeben hat?“ fragte Michael. „Ich habe davon heute Morgen in der Reinigung gehört.“
Britta und Frido, die inzwischen aufgeschlossen hatten, guckten interessiert und gaben erstaunte Laute von sich. „Ja“, sagte Rieke. „Eine alte Schulfreundin von mir wurde mitten im Café bewusstlos und es gab eine große Aufregung. Annette und ich und die beiden Jungs, wir haben uns um sie gekümmert, bis der Rettungswagen ankam. Zum Glück konnten sie ihr helfen, sie ist jetzt über den Berg. Aber jeder fragt sich doch, wie das passieren konnte.“ „Was passieren?“ fragte Britta irritiert. „Naja, jemand hatte ihr K.O.-Tropfen in die Limo gemischt.“ Alle schwiegen betroffen und guckten vor sich hin und nur Frido fragte irgendwann schüchtern: „Was ist das eigentlich? Ich meine, was ist da drin?“ „Gamma-Hydroxybuttersäure. GHP. Liquid Ecstasy. Man schmeckt es nicht heraus“, murmelte Michael. „Man gibt es den Opfern gern, weil sie sich später an nichts mehr erinnern können.“ „An was erinnern?“ fragte Frido, doch dann schlug er sich an die Stirn. „Ach so. Wie naiv ich bin. Na, das ist ja fies!“
Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 08/19 ab Seite 110.
Hier geht es zum ersten Teil der Reihe.
Wie es weitergeht, erfahren Sie in der September-Ausgabe von „DIE PTA IN DER APOTHEKE“