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Multimorbidität | Senioren

RISIKOFAKTOR MULTIMEDIKATION

Chronische- und Mehrfacherkrankungen (Multimorbidität) tragen dazu bei, dass immer mehr Medikamente dauerhaft verschrieben werden – woraus sich teils gefährliche Wechsel- und Nebenwirkungen ergeben.

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Das Thema Arzneimittelversorgung älterer Menschen ist selbst für erfahrene Mediziner eine Herausforderung.  Auch tragen Patienten und Angehörige oft selbst zum Problem der Mulitmedikation bei, indem sie zusätzlich zu den ärztlich verordneten Präparaten frei verkäufliche Mittel dem täglichen Bedarf hinzufügen. Die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie setzt sich für Gegenstrategien ein: Weniger ist mehr!

Altersmediziner müssen im Krankenhaus in der Regel Medikamente reduzieren oder absetzen, um eine Besserung des Wohlbefindes ihrer betagten Patienten zu erzielen. Darüber spricht DGG-Arzneimittel-Experte Dr. Joachim Zeeh, Chefarzt und Ärztlicher Direktor der Geriatrischen Fachklinik Georgenhaus Meiningen, im Interview.

Was sind die Gefahren von zu vielen Medikamenten, also Multimedikation?

Dr. Joachim Zeeh: Multimedikation wird mit einer Reihe negativer Folgen in Verbindung gebracht: mit Arzneimittelinteraktionen, unerwünschten Nebenwirkungen und häufigeren Krankenhausaufenthalten aufgrund einer uneffizienten, weil unstrukturierten Therapie. Nur zu oft werden die Krankheiten, die ein Patient über die Jahre angesammelt hat, alle gleichermaßen „so ein bisschen“ behandelt – anstatt sich auf das Symptom, das die Lebensqualität des Patienten am meisten beeinträchtigt, zu konzentrieren.

Gerade wenn sich Medikamente nicht untereinander vertragen, besteht die Gefahr, dass der „Löschwasserschaden“ größer sein kann als der „Brandschaden“. Das Problem wird weiter akzentuiert durch den Prozess der Gebrechlichkeit, d.h. durch nachlassende Organreserven von Leber, Niere, Hirn und Muskulatur. In solchen Fällen kann sich die Medikamentenwirkung auch ins Gegenteil verkehren, so dass sie krankmachende Effekte ausübt. Ein Beispiel: Alte Menschen gehen – zumindest im Krankenhaus – oft recht zeitig zu Bett und klagen dann nicht selten über „Schlaflosigkeit“.

Wird der Schlaf dann mittels eines Benzodiazepins erzwungen, können die in diesem Fall unerwünschten, muskelschwächenden Effekte der Substanz dazu führen, dass das Sturzrisiko zunimmt. Daher brauchen wir Altersmediziner checklistenartige Anleitungen, wie mit schlecht vertragener Polymedikation umgegangen werden kann.

Trotzdem sagen Sie, dass Multimedikation nicht immer schlecht sei. Warum das?

Dr. Joachim Zeeh: In der Pharmakotherapie alter Menschen geht es nicht per se darum, weniger Medikamente zu verschreiben. Wenn ein alter Mensch viele Krankheiten hat und viele Tabletten einnimmt, aber unter diesen Tabletten eine gute Lebensqualität, eine gute Symptomkontrolle, keinen ungewollten Gewichtsverlust hat, wenn er mit der Medikamenteneinnahme zurecht kommt und nichts durcheinander bringt, dann ist an der Menge der Medikamente nichts auszusetzen.

Es gibt durchaus auch Patienten, die unterversorgt sind, bei denen z.B. ein ACE-Hemmer bei der Therapie der Herzinsuffizienz fehlt und ergänzt werden sollte. Daher muss man sich genau ansehen, was ist zu viel und an welcher Stelle fehlt etwas. Allerdings stellen wir eben in der Regel fest, dass unsere Patienten zu viele Medikamente zu sich nehmen.

Wie plant man am besten die Gabe und Höchstzahl von Medikamenten? Was gibt es da an Empfehlungen?

Dr. Joachim Zeeh: Negativlisten wie Beers- und Priscus-Liste führen Medikamente auf, die bei alten Menschen nebenwirkungsträchtig sind und deshalb zurückhaltend eingesetzt oder ganz vermieden werden sollten. Kommt es bei einem Patienten in Folge der Verordnung eines neuen Medikamentes zu einer Verschlechterung des Allgemeinzustands, wirkt er z. B. verwirrt, dann sollte der Arzt überprüfen, ob ein Medikament mit im Spiel ist, das diesen Verwirrtheitszustand verursachen könnte. Ob es ursächlich ist, lässt sich durch einen Auslassversuch feststellen.

Zugegeben: Das ist viel „trial and error“. Aber die Pharmakotherapie der Hochbetagten, Multimorbiden ist oft ein „trial and error“ – weil es kaum passende Leitlinien gibt. Je höher das Alter, desto individueller ist der Gesundheits- und Funktionsstatus von Menschen. Es gibt 85-Jährige, die spielen noch Tennis, und es gibt 75-Jährige, die kennen ihre Kinder nicht mehr oder sind bettlägerig. Ab etwa dem 75. Lebensjahr geht eine Schere auf, wo sich die Menschen, in dem, was sie noch können, sehr stark unterscheiden. Deswegen ist es auch so schwierig, für gebrechliche alte Menschen Leitlinien aufzustellen. Um so wichtiger ist es, ein geriatrisches Assessment durchzuführen, also gezielte Tests, und damit Stärken und Schwächen eines alten Menschen aufzudecken und die Therapie danach maßzuschneidern.

Ist dies ein Feld, in dem mehr getan werden müsste?

Dr. Joachim Zeeh: Es gibt zwar Bemühungen, Leitlinien für Multimorbidität zu erstellen. Doch eine klinische, kontrollierte Studie in dieser Patientengruppe gestaltet sich sehr schwierig. Es müssten viele Untergruppen gebildet werden und das mit großen Teilnehmerzahlen, weil sonst die sogenannten Drop-Outs – die vorzeitig gestorbenen Teilnehmer – den Abschluss der Studie gefährden.

Müsste nicht auch die Pharmaindustrie mit entsprechenden Medikamenten für Ältere reagieren?

Dr. Joachim Zeeh: Die Pharmaindustrie weiß durchaus um diese Problematik. In neueren Medikamentenstudien sind mittlerweile auch Menschen eingeschlossen, die über 65 Jahre alt sind. Aber Multimorbide sind in solchen Studien weiterhin oft unterrepräsentiert. Demenz oder Nierenfunktionseinschränkungen gelten auch heute häufig noch als Ausschlusskriterium. Dabei sind solche Krankheiten bei Hochbetagten und Gebrechlichen Realität...

Wie können Ärzte feststellen, ob ein Patient zu viele Medikamente nimmt? Es ist doch durchaus möglich, dass frei verkäufliche Präparate einfach nicht erwähnt werden, oder?

Dr. Joachim Zeeh: Da greift die Plastiktüten-Strategie: Wir bitten die Patienten, einfach mal alle Medikamente und Präparate, die sie einnehmen, in eine Tüte zu füllen und mit in die Sprechstunde zu bringen. Dann schütten wir alles auf einen Tisch und sortieren es gemeinsam mit dem Patienten durch. Das dauert dann zwar schon mal eine Viertelstunde, ist aber sinnvoll. So kann man feststellen, welche Medikamente aktuell genommen werden, welche abgelaufen sind, welche freiverkäuflichen Mittel zusätzlich jeden Tag geschluckt werden.

So kann man ganz individuell analysieren, was der status quo ist. Darauf aufbauend kürzen oder erweitern wir dann bei Bedarf die Therapie. Die Reaktion der Patienten ist sehr positiv, denn auch sie haben manchmal Sorge, dass sie zu viel einnehmen und dass manche Medikamente vielleicht überflüssig sind. Sich hierfür Zeit zu nehmen ist sehr, sehr wichtig – und dafür sind die Patienten wie auch Angehörige sehr dankbar. Es ist ein wichtiger Teil der Arbeit von uns Altersmedizinern! Quelle: Informationsdienst Wissenschaft (idw)

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