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Poltik

ORPHAN DRUGS

Arzneimittel, die für die Behandlung seltener Krankheiten eingesetzt werden, gehören zu den teuersten im Markt. Gab es bis vor einigen Jahren nur einige wenige, sind es inzwischen siebenundsechzig.

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Die Pharmaindustrie zeigte bis zur Jahrtausendwende wenig Interesse an Orphan Drugs . Gerade einmal fünf Arzneimittel waren in Europa zugelassen. Hohe Forschungskosten und ein „kleiner Markt“ ließen Investitionen wenig lukrativ scheinen. Nur mit Anreizen konnte es gelingen, die Versorgung der Betroffenen zu verbessern. Mit der Verordnung über Arzneimittel für seltene Leiden hat die EU im Jahr 2000 die Rahmenbedingungen für die Entwicklung und Vermarktung neuer Orphan Drugs wesentlich verbessert.

Hintergrund Ein Arzneimittel wird als Orphan Drug ausgewiesen, wenn es für die Diagnose, Vorbeugung oder Behandlung einer Krankheit bestimmt ist, von der nicht mehr als fünf von zehntausend Personen betroffen sind. Es muss zudem zur Behandlung einer schweren oder einer Invalidität verursachenden Erkrankung bestimmt sein und das Inverkehrbringen des Arzneimittels in der Gemeinschaft darf ohne Anreize vermutlich nicht genügend Gewinn bringen, um die notwendigen Investitionen zu rechtfertigen.

Konkret wurde mit der EU-Verordnung Nr. 141/2000 das zentrale Zulassungsverfahren für Orphan Drugs erleichtert, eine Hilfestellung bei der Durchführung klinischer Prüfungen eingeräumt sowie eine zehnjährige Marktexklusivität unabhängig vom Patentschutz gewährt. Zudem kann der Investor von der Zahlung der Gebühr, die an die Europäische Arzneimittelagentur zu entrichten ist, befreit werden. Auch direkte Forschungshilfen zu Gunsten kleiner und mittlerer Unternehmen lässt die Verordnung zu.

Der Erfolg der Neuregelung ließ nicht lange auf sich warten. Die Zahl der Orphan-Drug-Zulassungen stieg kontinuierlich und beträgt inzwischen siebenundsechzig. Nach Aussage des Verbands forschender Pharma-Unternehmen (vfa) gab es Ende 2012 zudem annähernd eintausend Entwicklungsprojekte, die in den nächsten Jahren zu weiteren Zulassungen von Orphan Drugs führen könnten.

Gesetzliches Die Sonderbehandlung für Orphan Drugs findet ihre Fortsetzung auch im Sozialgesetzbuch V. So wurde mit dem am 01.01.2011 in Kraft getretenen Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) festgelegt, dass der medizinische Zusatznutzen für Orphan Drugs bereits durch die Zulassung als belegt gilt. Nachweise zum medizinischen Nutzen und zum medizinischen Zusatznutzen im Verhältnis zur zweckmäßigen Vergleichstherapie müssen in der Regel nicht vorgelegt werden, da regelmäßig davon auszugehen ist, dass es für die Behandlung dieser seltenen Erkrankung keine therapeutische Alternative gibt.

Erst wenn der Umsatz des Orphan Drugs einen Betrag von 50 Millionen Euro zu Apothekenverkaufspreisen übersteigt, entfällt die Sonderregelung. Die allermeisten Orphan Drugs bleiben jedoch trotz der hohen, zum Teil fünfstelligen Apothekenverkaufspreise unterhalb dieser Umsatzgrenze.

»Hohe Forschungskosten ließen Investitionen wenig lukrativ scheinen.«

Schon wird manchen die Erfolgsgeschichte unheimlich und Kritik am Sonderstatus wird laut. Er würde gezielt genutzt, indem etwa recht häufige Krankheiten wie Krebs in enge Indikationsgruppen gesplittet würden, um dann scheibchenweise einen Orphan-Drug-Status beanspruchen zu können. Die Nutzenfrühbewertung mag dadurch im Einzelfall tatsächlich zu vermeiden sein, die Preisverhandlungen mit dem Spitzenverband Bund der Gesetzlichen Krankenkassen sind für Orphan Drugs wie für alle anderen innovativen Arzneimittel jedoch zwingend durchzuführen.

Beispiele Zu den seltenen Krankheiten, die mit Orphan Drugs aus den letzten Jahren behandelbar geworden sind, gehören beispielsweise die chronische Lungenentzündung bei Mukoviszidose, verursacht durch das gramnegative Stäbchenbakterium Pseudomonas aeruginosa, mit 65 000 Betroffenen in der EU (Cayston®, Wirkstoff: Aztreonamlysin; TOBI Podhaler®, Wirkstoff: Tobramycin). Für das Cushing Syndrom (Vollmondgesicht), das durch einen Tumor der Hypophyse und hierdurch stark erhöhte Kortisolspiegel im Blut ausgelöst wird, steht für 20 000 Patienten seit April 2012 europaweit Pasireotid (Signifor®) zur Verfügung.

Etliche weitere Orphan Drugs helfen bei seltenen Stoffwechselstörungen, wie der familiären Lipoproteinlipasedefizienz oder der vererbten Enzymmangelerkrankung „Morbus Gaucher“. Andere finden bei Krebserkrankungen Verwendung, zum Beispiel bei der häufigsten Leukämieform bei Kindern, der akuten lymphatischen Leukämie (Sprycel®, Wirkstoff: Dasatinib) oder bei Eierstockkrebs (Yondelis®, Wirkstoff: Trabectedin).

Neben diesen finden sich unter den Orphan Drugs auch einige „gute Bekannte“. So etwa Ibuprofen als Injektionslösung, das bei fehlendem Verschluss des Ductus arteriosus bei Frühgeborenen unter dem Warenzeichen Pedea® Anwendung findet; Coffeincitrat (Peyona®) ist als Orphan Drug seit Juli 2009 für die primäre Apnoe bei Frühgeborenen zugelassen. Oder der Wirkstoff Sildenafil, der nicht nur als Lifestyle-Arzneimittel sondern auch bei Bluthochdruck in den zur Lunge führenden Arterien (pulmonale Hypertonie) zur Anwendung kommt (Revatio®). Auch das bereits in der Spätantike als Gift bekannte Arsentrioxid (Trisenox®) hatte bis März 2012 eine Orphan-Drug-Zulassung; es steht als Second-Line-Therapie bei der akuten Leukämie der Promyelozyten, Vorläuferzellen der weißen Blutkörperchen zur Verfügung.

Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 05/13 ab Seite 50.

Dr. Michael Binger, Hessisches Sozialministerium

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