Arzneipflanze des Jahres
MITTELALTER WUSSTE DEN ANDORN ZU SCHÄTZEN
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Dreißig bis neunzig Zentimeter hoch wächst die krautige Pflanze auf anspruchslosen Böden, gern im Mittelmeerraum, aber auch in Nord- und Südamerika – und bei uns. Weil man den Andorn im Mittelalter so sehr schätzte, brachten ihn die Wikinger nach Skandinavien mit – und jetzt wächst er selbst in Schweden und auf den britischen Inseln. Auch in heimischen Gärten verbreitet sich das Kraut, das ein wenig der Taubnessel ähnelt, ganz unkompliziert, fast „wie Unkraut“.
Klausenfrüchte mit Widerhaken Der Andorn, auch Helfkraut oder Mariennessel genannt, gehört zur Familie der Lippenblütler; aus dicken, spindelförmigen Wurzeln wachsen quadratische, hohle Stängel mit weißen Drüsenhaaren. Die grünen Blätter sind eiförmig, spitz zulaufend, leicht gezähnt und ebenfalls behaart. Sie verfügen über eine tief eingeprägte Blattnervatur. Zwischen Anfang Juni und Ende August blüht der Andorn; dann bilden sich kugelige Scheinquirle mit vielen kleinen weißen Blüten aus den Blattachseln. Am Ende erscheinen dann Klausenfrüchte; ähnlich wie Kletten verfügen sie über winzig kleine Widerhaken und werden so von vorbeistreifenden Tieren „abgesammelt“ und über den Wald verteilt.
Andorn schmeckt furchtbar bitter, und das ist sowohl das Geheimnis seines Erfolges als auch seiner zurückgegangenen Beliebtheit. Als die Menschen einzig über den Arzneigarten der Natur verfügten, war er der Star unter den Heilkräutern. Plinius der Jüngere, der 79 nach Christus starb, rühmte den Weißen Andorn als „eines der vorzüglichsten Kräuter“; er wurde damals schon gegen Lungenleiden und hartnäckigen Husten eingesetzt. Dafür sorgt der hochpotente Bitterstoff Marrubiin, aber auch Flavonoide, ein paar stickstoffhaltige Verbindungen und ätherische Öle tragen zur Wirksamkeit bei.
Studien belegen die schleimlösende Wirkung des Andornkrauts und deren entkrampfende und entzündungshemmende Eigenschaften. Auch gegen Verdauungsbeschwerden wird Andorn eingesetzt; er hat unter anderem eine cholagoge, den Gallenfluss anregende, Wirkung und auch der Magen produziert mehr Verdauungssäfte, wenn er mit Andorntinktur gefüttert wird. Die ätherischen Öle wirken sogar begrenzt antibakteriell, das wurde im Hinblick auf den Erreger Staphylococcus aureus bewiesen.
Die Arzneipflanze des Jahres wird seit 1999 durch ein Expertengremium der Universität Würzburg gewählt.
Gegen böse Stiefmütter In der Antike war Andorn so beliebt, dass man ihm alle möglichen Heilkräfte zusprach – sogar gegen böse Stiefmütter. Falls die einem nach dem Leben trachteten, etwa durch ein Tässchen Eisenhuttee, empfahl der Heilkundige Mönch Walahfrid die schnelle Einnahme eines Andorn-Trankes, denn das vertreibe „die lebensbedrohenden Gefahren“. Hildegard von Bingen, die sich bestens in der Pflanzenkunde auskannte, empfahl in Wein ausgekochten Andorn, zusammen mit Fenchel und Dill, gegen starken Husten und erwähnte die Zubereitung in ihrer Schrift „Physica“.
Man konnte ihn wahlweise auch mit Salbei, Thymian und Fenchel in Butter anwärmen und auf dem Kopf verteilen. Alte Kräuterbücher des Mittelalters mischten ihn mit Veilchenwurzel oder Lavendel; so half der Andorn auch bei Krankheiten der Leber, der Nieren und der Milz und wurde bei Wurmbefall eingesetzt. Mischte man Odermennig, Borretsch und Alant dazu, half der Trank gegen Verstopfung und Gelbsucht; äußerlich sollte die Tinktur Schuppen, Feigwarzen und Flechten bekämpfen.
Historische Bedeutung Diskutiert wird auch eine blutdrucksenkende Wirkung der Andornwurzel, da sie eine gefäßerweiternde Wirkung haben soll. Andorn ist als geschnittene Droge erhältlich, aus der sich ein Tee bereiten lässt. Daneben bietet der Handel einen schleimlösenden Presssaft bei Husten an; auch als Bronchialtropfen im OTC-Bereich kann man ihn kaufen. Das Institut für die Geschichte der Medizin an der Universität Würzburg wählt jedes Jahr eine etwas in Vergessenheit geratene Heilpflanze aus, die sie mit der „Arzneipflanze des Jahres“ wieder in den Fokus der Öffentlichkeit rückt; zuletzt waren das Kapuzinerkresse und Saathafer.
Der Andorn wurde aufgrund seiner herausragenden historischen und heilkundlichen Bedeutung herausgestellt, es gibt die Pflanze schon sehr lange, älteste Funde gehen bis in die Jungsteinzeit zurück. Johannes Gottfried Mayer vom zuständigen Institut empfiehlt, die Arzneipflanze mit anderen Kräutern zu mischen, denn sonst ziehe einem das Ganze schon recht stark den Gaumen zusammen: „Wahrscheinlich ist der Andorn nur deshalb als Arzneipflanze zurückgegangen, weil bitter nicht mehr populär ist.“
Den Artikel finden Sie auch in unserem Sonderheft „Phytotherapie und alternative Heilmethoden“ ab Seite 52.
Alexandra Regner, PTA und Journalistin