Mechanismus | Leserasterverschiebung
SO VERMEHRT SICH DAS CORONAVIRUS
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Wenn sich Viren im Körper vermehren, greifen sie auf die Ressourcen der von ihnen befallenen Zellen zurück: Die zelleigenen Proteinmaschinen, die Ribosomen, lesen das Erbgut des Virus ab und bauen so die viralen Proteine. Drei Nukleinbasen im Erbgutstrang codieren eine Aminosäure des Proteins. Dabei ist es für die meisten Viren wichtig, dass die Ribosomen nicht in der Basenfolge verrutschen. Anders ist es bei SARS-CoV-2: Es ist genau auf solche sogenannten Leserasterverschiebungen oder „Frameshifting“ angewiesen. Damit manche der Ribosomen „verrutschen“ können, ist die virale RNA auf komplexe Weise gefaltet.
Nukleinbasen sind Bestandteil von Nukleinsäuren wie RNA und DNA. Die Reihenfolge, in der sie im Erbgut-Molekül vorliegen, entscheidet darüber, welches Protein aus dem Erbgut-Abschnitt entsteht.
In RNA kommen vier Basen vor:
Adenin (A)
Guanin (G)
Cytosin (C)
Uracil (U)
Diesen für Coronaviren wichtigen Mechanismus hat ein Team um Pramod Bhatt von der ETH Zürich näher untersucht. Mithilfe eines Kryo-Elektronenmikroskops machten sie die Wechselwirkungen zwischen der Virus-RNA und den Ribosomen sichtbar. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass durch die spezielle Faltung der RNA, der Erbgutstrang an einem gewissen Punkt am Ribosom hängen bleibt. Das zwingt das Ribosom in eine gespannte Konformation. In einigen Fällen verrutscht so das Ribosom um eine Nukleinbase: Statt U_UUA_AAC liest es UUU_AAA_C ab. Die Forschenden fassen zusammen:
„Folglich werden zwei verschiedene virale Proteine synthetisiert; das eine, wenn kein Frameshifting stattfindet, das andere als Folge des Frameshiftings.“
Für Genetik-Nerds:
Die Basenfolge UUA_AAC codiert für die Aminosäuren Leucin und Asparagin.
Die Basenfolge UUU_AAA codiert hingegen für Phenylalanin und Lysin.
Wie lässt sich die Verschiebung stören?
Um neue Ansatzpunkte für die Entwicklung von Medikamenten gegen COVID-19 liefern zu können, untersuchten die Wissenschaftler*innen, wie sie die Verschiebung mit chemischen Substanzen gezielt stören können. Sie testeten zwei Substanzen an lebenden Zellen im Reagenzglas, für die bereits frühere Studien nahegelegt hatten, dass sie das Frameshifting beeinflussen könnten. Und tatsächlich: Eine der beiden, das Fluorchinolon Merafloxacin, behinderte die Leserasterverschiebung. Merafloxacin wurde in den 1980er Jahren als Antibiotikum unter anderem gegen Tuberkulose erforscht.
Anstoß für die Entwicklung neuer Medikamente
Obwohl beide Wirkstoffe für die damit behandelten Zellen nicht toxisch waren, kommen sie als Medikamente gegen COVID-19 nicht in Frage. Sie verringerten zwar die Vermehrung von SARS-CoV-2, waren aber nicht wirksam genug, um die Krankheit zu bekämpfen.
Dennoch: Die Forscher sind optimistisch, dass ihre Ergebnisse die Entwicklung neuer Medikamente anstoßen können und erklären: „Obwohl der Potenzbereich für die von uns getesteten Verbindungen nicht das ist, was man von potenziellen Wirkstoffkandidaten erwarten würde, bietet er dennoch einen Ausgangspunkt für ein Hochdurchsatz-Screening und belegt, dass Frameshifting ein brauchbares Ziel für therapeutische Maßnahmen gegen SARS-CoV-2 ist.“ Nicht nur das – auch in Bezug auf andere Viren könnten die Erkenntnisse hilfreich sein. Nenad Ban, ein Kollege Bhatts, sagt:
„Unsere zukünftige Arbeit wird sich darauf konzentrieren, die zellulären Abwehrmechanismen zu verstehen, die das virale Frameshifting unterdrücken, da dies für die Entwicklung von Wirkstoffen mit ähnlicher Aktivität nützlich sein könnte.“
Frameshifting kommt bei menschlichen Zellen nicht vor, aber da es für viele Viren essenziell ist, ist dieser Mechanismus ein vielversprechender Angriffspunkt.
Quelle: Wissenschaft.de