Bücher, von denen man spricht
IN MORPHEUS‘ ARMEN
Seite 1/1 4 Minuten
Wer möglichst wenig schläft, gilt – man muss es leider sagen – bei uns als ziemlich cool. Unter Leistungsträgern gilt bereits eine normale, gesunde Schlaflänge als anrüchig – genauso wie der Mittgasschlaf und die Pause zwischendurch. Wenn die Bundeskanzlerin nach ultralangen Verhandlungen in Brüssel oder anderswo vor die Kameras tritt, haben die beteiligten Politiker manchmal seit mehr als 30 Stunden nicht geschlafen. Aber sind sie dann eigentlich noch urteilsfähig?
Schlafmangel gleicht Betrunkensein Fietze sagt: Ganz klar nein. Denn die Gedächtniskraft, das Urteilsvermögen und die Denkleistung leiden, wenn das Gehirn zwischendurch nicht eine Pause einlegen kann. Und der Chronobiologe Christian Cajochen von der Universität Basel bekräftigt: Wer zehn Nächte hintereinander nur sechs Stunden schläft, befindet sich, was Leistungsvermögen, Reaktionsgeschwindigkeit, Gedächtnis und Urteilskraft angeht, in einem Zustand, als hätte er ein Promille Alkohol im Blut.
Fietze fragt also rhetorisch: „Wollen Sie das Schicksal unseres Landes und Europas tatsächlich in die Hände von Menschen gelegt sehen, die durch ihren Schlafmangel genauso beeinträchtigt sind, wie wenn sie ein paar Gläschen getrunken hätten?“ Mit dieser provokativen Frage beginnt das Buch und es ist dem Professor, der in Berlin dem Interdisziplinären Schlafmedizinischem Zentrum der Charité vorsteht, wichtig, für den Schlaf eine Lanze zu brechen. Dazu erklärt er ausführlich das Phänomen des Schlafens, wozu er überhaupt gut ist und warum wir ihn brauchen.
Wartungspause für den Kopf Schuld ist natürlich unser Gehirn. Die hochproduktive Denkfabrik in unserem Schädel braucht zwischendurch Wartungseinheiten, sonst funktioniert sie nicht mehr richtig. Wir sind das einzige Säugetier, dass sich vollkommene und damit erholsame Tiefschlafphasen gönnt; andere Tiere können ihr Gehirn zweiteilen, wobei mal die rechte, mal die linke Hälfte in Schlummer versinkt. Im Schlaf legt sich das Gehirn übrigens keineswegs aufs Ohr¸ es formiert sich im Gegenteil das Nervennetzwerk und die Mikrostruktur völlig neu.
Dabei trennt es sich von unnützen Eindrücken und Informationen, speichert nützliche, macht Platz für neue Informationen und geistige Herausforderungen am nächsten Tag und entsorgt Stoffwechselabbauprodukte. Täte es das nicht, wäre am nächsten Tag die Reihenfolge auf dem gestrigen Einkaufszettel genauso wichtig wie der neue Arbeitsvertrag, die Auswahl der Socken auf dem gleichen Rang wie die Beantwortung der Examensfrage. Da viele von uns es aber nicht mehr für nötig erachten, ausreichend zu schlafen oder es aus beruflichen Gründen unmöglich ist, leidet inzwischen jeder Zehnte an Insomnie.
80 Prozent der deutschen Arbeitsnehmer schlafen entweder zu kurz, nicht mehr gut oder schlecht: „Die übermüdete Gesellschaft“ verweist auch auf den volkswirtschaftlichen Schaden von Schlafmangel. Behandlungsbedürftige Schlafstörungen sind das Spezialgebiet von Fietze, er hat darüber bereits mehrere Bücher geschrieben: „Weit über die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung trägt nicht nur das Risiko, sich selbst zu gefährden, sondern auch andere“, sagt er. Warum ist das so? „Weil es zu wenige Angebote für eine Therapie gibt. Weil unsere Leistungsgesellschaft den Schlaf nicht gebührend respektiert und die zunehmenden Störungen ignoriert.“
Schlaf ist schick In den USA ist man da schon weiter: Die Verlegerin Ariane Huffington veröffentlichte bereits vor Jahren das Buch „Die Schlafrevolution“, die New York Times bezeichnete den Schlummer als „Neues Statussymbol“ und Jeff Bezos, Chief Executive von amazon, outete sich als Langschläfer (acht Stunden) und ermutigt seine Mitarbeiter, selbiges zu tun. Solche Zustände wünscht sich Fietze auch hier.
Die ganze Misere fängt schon damit an, dass Menschen viel zu spät zum Arzt gehen, wenn sie unter Schlafstörungen leiden, berichtet er (unter anderem auch, weil es so wenige Spezialisten auf dem Gebiet gibt), und er stellt klar: „Schläft man länger als fünf Jahre zu kurz, zu schlecht oder kurz und schlecht, dann leidet nach heutigem Kenntnisstand die Lebenserwartung und steigt die Gefahr, dass sich eine Herz-Kreislauferkrankung wie Bluthochdruck, Vorhofflimmern, Schlaganfall und Herzinfarkt entwickelt oder ein Diabetes oder Krebserkrankungen.“ Fietze erklärt die Mechanismen, die dem Schlaf zugrunde liegen – warum Kohlenhydrate müde und zu wenig Schlaf dick macht, warum man sich „gesundschlafen“ und Schlaf auch nachholen kann – und er erklärt, welche Therapien es für chronisch Schlafgestörte gibt.
Die Liste geht von Verhaltenstherapien über wirksame Phytotherapien bis hin zu einem Thema, das ihm besonders am Herzen liegt: die Z-Drugs wie Zolpidem und Zopiclon. Ihnen widmet er ein eigenes Kapitel (Benzodiazepine hat er hingegen aus seinem Repertoire gestrichen). Er beleuchtet das schlechte Image, das die Schlaftablette hat und zeichnet den Segen nach, die sie überdies bedeutet. In seinem stufenweisen Standard-Behandlungsplan kommen diese Mittel an letzter Stelle, zuvor werden Phytotherapeutika, L-Tryptophan, Melatonin, Valdoxan und Doxepin getestet.
Schurken-Image der Schlafmittel Woher nun kommt das fürchterliche Image der Schlafmittel, speziell der Z-Präparate? Liegt es an den alten Barbituraten, mit denen man sich sogar umbringen konnte? Am unkritischen Umgang mit ihnen, als sie in den siebziger Jahren mit der Gießkanne verschrieben wurden? Am Contergan-Skandal? Teils, sagt Fietze, aber es fehlen schlicht heute die Schlafmediziner, die die durchaus wirksamen Schlafmittel unserer Zeit richtig einzusetzen wissen. All die Warnungen, dass ein Abhängigkeitspotenzial bestünde, weist er mit den Worten zurück: „Abhängig macht jede Tablette, die wirkt, erst recht ein Medikament, dessen Wirkung man merkt.
Ich bin von der Lesebrille abhängig, ein Diabetiker vom Insulin… - ja, ich werde abhängig von der Therapie, die mir chronisch hilft.“ Auch Hausärzte seien manchmal falsch informiert, wenn sie ihre Patienten vor dem dauerhaften Gebrauch der Z-Drugs warnten. Diese verhelfen zu längeren Tiefschlafphasen und haben keinen Hang-Over-Effekt, was für Schlafgestörte, die jahrelang unter ihrer Krankheit gelitten haben, einen erheblichen Zuwachs an Lebensqualität bedeutet. Fietze zitiert einen Patienten, der sagt: „Ich finde es großartig, dass Sie eine anhaltende Schlafstörung als chronische, therapiebedürftige Erkrankung deklarieren. Das war überfällig und ich hoffe, dass Menschen, die deshalb Schlafmittel einnehmen müssen, bald nicht mehr als Junkies verunglimpft werden.“
Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 09/18 ab Seite 100.
Alexandra Regner, PTA und Journalistin
Prof. Dr. Ingo Fietze: Die übermüdete Gesellschaft. Wie Schlafmangel uns alle krank macht. Rowohlt Verlag Hamburg, 240 Seiten, ISBN 978-3-498-02139-9, 20 Euro.