Bücher, von denen man spricht
ICH HABE ES SATT
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Ach, die Franzosen: Sie trinken regelmäßig Rotwein, greifen herzhaft in den Brotkorb und essen sogar Gänseleber. Und die Forschung beschäftigt es bis heute: Sind sie nun gesünder als andere und wenn ja, liegt es am Rotwein oder am Olivenöl oder am Ende doch daran, dass die Franzosen kleinere Portionen essen, in Gesellschaft und nach klaren Abfolgen? Ernährungswissenschaftler nennen dieses Rätsel das „Französische Paradox“.
Ungesunder Zwang zum Gesunden Es hat Zeiten in Nils Binnbergs Leben gegeben, da hätte er mit Abscheu auf das gallische Lebensgefühl reagiert; er wäre lieber verhungert, als sich dieser Sichtweise zu ergeben. Schon beim Betreten eines Supermarktes schnürte sich ihm der Hals zu. „Panik boxte mir in den Bauch, ließ meinen Körper taumeln“, beschreibt er es. „Mein Gehirn brauchte manchmal eine halbe Stunde, um die Zutatenliste einer Packung zu erfassen. Ich war immer auf der Suche nach der einen, hoffentlich erlösenden Information über irgendeinen ungesunden Stoff.“ Er trinkt jeden Morgen nach dem Aufstehen zwei Gläser Wasser, um den Darm aufzuwecken, danach einen milchsauervergorenen Rote-Beete-Saft für die Darmflora. Isst dann einen Buchweizenbrei. Er nimmt auf Reisen – er ist Journalist – sein eigenes Essen in Tupperdosen mit, bestellt in Restaurants nur noch stilles Wasser und sonst nichts. Und schließlich liest er in der New York Times von dieser neuen Krankheit: der Besessenheit, sich so gesund wie möglich zu ernähren.
Orthorexia nervosa. Er weiß, es ist seine Krankheit. Harmlos ist sie nicht. Denn sie beschreibt Menschen, die süchtig sind. Süchtig nach der Frage, ob sie sich gesund ernähren; ob sie beispielsweise genügend Antioxidanzien intus haben für die Bindung von freien Radikalen. Welche Aminosäuren sie zu sich nehmen sollen, um noch gezielter ihre Hormonproduktion anzukurbeln. Die sich am Schluss so sehr in Ernährungsfragen verheddern, dass sie durch die Beschränkung auf wenige Nahrungsmittel an Mangelerscheinungen sterben können. Gerade das ist so paradox: Orthorektiker sind absolute Fachleute, was den Gehalt von Nahrungsmitteln betrifft; sie könnten sich vollwertig ernähren, aber ihre inneren Zwänge verhindern das.
Nils, die Spaßbremse Gottlob fiel Binnberg irgendwann auf, dass er erkrankt war und er trachtete danach, sich aus diesem Teufelskreis zu befreien. Denn schon waren soziale Beziehungen beeinträchtigt. Auf Partys war er längst die Spaßbremse und er hatte ein Faible dafür, beim Essen über Verdauungssäfte und Darmbakterien-Kolonien zu sprechen. „Ich wundere mich bis heute“, bemerkt er selbstkritisch, „dass niemand mal ‚Nils, Stopp jetzt!‘ gesagt hat.“ Getreu dem Grundsatz, dass Selbsterkenntnis der erste Schritt zur Besserung ist, setzte sich der heute 43-Jährige hin, um dieses Buch zu schreiben. „Ich habe es satt“ ist nicht nur eine Abrechnung mit der Krankheit, es ist auch eine gute Analyse der Tatsache, dass Essen mittlerweile für viele den Status einer Religion eingenommen hat. Denn: „Wer heute bestimmte Lebensmittel meidet, fühlt sich nicht nur gesünder, er fühlt sich vor allem als besserer Mensch“, sagt der Autor.
Schuld war die Speckrolle Der Weg in die Sucht hatte begonnen, als Binnberg bei einem Italien-Urlaub auf ein kleines Speckröllchen am Bauch angesprochen wurde, er nennt es den „Tag, an dem das Essen seine Unschuld verlor“. Fortan sucht er nach einem Weg, sich selbst zu optimieren und findet – die Low-Carb-Diät. Berauschende Erfolge sind die Folge; nach ein paar Monaten wird er allseits bewundert, denn er hat seinen jugendlich-dünnen Körper zurückgewonnen. „Ich wurde zum Messias der Metabolismus-Diät. Wie viele andere Menschen, die ihre Ernährung umstellen, dachte ich nicht, dass meine neue, sondern dass meine bisherige Ernährungsweise gestört war.“ Binnberg beginnt, sich ins Nährwerte-Labyrinth zu verstricken; es folgt die Paleo-Diät, bei der die Botschaft lautete: Es existiert eine ursprüngliche, universell gültige Ernährung. Nur zu gern nahm Binnberg diesen neuen Glaubensgrundsatz in sich auf, denn nichts anderes war es: ein Glauben.
Vergleichbar dem einer Religion. Er zitiert dazu die britische Anthropologin Mary Douglas: Sie vertrat bereits 1966 die These, bei Essenstabus gehe es nicht um Fragen der Gesundheit und Ökologie; sie seien vielmehr eine Reaktion auf gesellschaftliche Erwartungen. Sozusagen der Versuch, eine esskulturelle Identität zu schaffen. Sie schildert dazu die Essvorschriften gläubiger Juden: Sie meiden Schweinefleisch nicht etwa aus Sorge um Trichinellose, einen typischen Parasitenbefall, sondern weil es nicht ihrer Weltordnung entspricht, welches zu essen; das widerspräche einer gottgegebenen Ordnung. Denn hinter Essenstabus verbirgt sich laut Douglas etwas Entscheidendes: Sie helfen den Menschen einer Gemeinschaft anhand der Unterscheidung von Lebensmitteln, die sie essen oder nicht essen, ihre eigene Identität zu entwickeln.
Identität stiftende Nahrungsmittel So ist es denn auch zu erklären, dass es Menschen gibt, die Fleisch, Gluten, Milchprodukte oder Zucker tabuisieren. Als Veganer, Paleo-Jünger oder Clean Eater weiß man sehr genau, welchen Platz man in der Gesellschaft einnimmt. Der Ausschluss von Lebensmitteln verbindet Menschen miteinander. Beispiel Gluten: „Sich glutenfrei zu ernähren, ist nicht rein, weil es einen bestimmten Stoff nicht enthält. Glutenfrei ist rein, weil es dem Essenden Identität verleiht. Es gibt ihm in seiner Peergroup Anerkennung.“ Beispiel Veganismus: „Die ihn zu ihrer Religion erkoren haben, sind oftmals Akademiker. Sie sollen 70 Prozent aller Veganer hierzulande ausmachen. Und das sind eben auch die Menschen, die tief in sich hineingehorcht haben und urplötzlich, ganz ohne ärztliche Diagnose, an einer Gluten-Intoleranz leiden, weshalb sie nur noch Ohne…-Produkte kaufen, um ihren Darm nicht zu verkleistern.“
Nils Binnberg ist allergisch gegen Nüsse, zwingt sich aber, welche zu essen, „weil sie von wirklich allen Gurus ausnahmslos als gesund gehandelt werden. Statt auf ihre essenziellen Fettsäuren zu verzichten, schmierte ich mir lieber Cortison-Creme auf die Finger. Verrückterweise opferte ich meine Gesundheit dem Wahn, gesund zu werden.“ Als er endlich herauskommt aus dem Circulus vitiosus, erkennt er: Eine Essstörung kann vollständig geheilt werden. Doch wann ist die Genesung erreicht? „Wenn er die meiste Zeit nicht über Essen nachdenkt. Und das ist schwierig in einer Kultur, die uns suggeriert, wir sollten unentwegt über das Essen nachdenken.“
Olivenöl, Rotwein oder schwarze Bohnen? Binnberg isst heute wieder alles und kommt immer mehr zu dem Schluss, dass es keine eindeutige Antwort gibt, woraus denn nun gesundes Essen besteht. Haben die griechischen Ikarier das Geheimnis entdeckt, die nicht mit dem Olivenöl geizen? Oder die Bewohner der japanischen Insel Okinawa, die bevorzugt Süßkartoffeln, Bittermelone und Nabera, eine heimische Gurkensorte essen? Oder die Costa Ricaner, deren Lieblingsessen aus schwarzen Bohnen, Kochbananen und Yams besteht? Sie alle gehören zu den langlebigsten Völkern der Welt.
Oder ist es vielleicht doch die Tatsache, dass diese Menschen nicht rauchen, viel zu Fuß gehen, keinen Stress haben und viel schlafen? Binnberg hat vor allem eins gelernt aus seiner Krankheit: Dass es keine allgemeingültige Formel gibt, man sich vor Ernährungsgurus hüten und besser jede neue Ernährungstheorie erst einmal hinterfragen sollte. Und dann sind plötzlich wieder die Franzosen vorn mit ihrem Paradoxon – vielleicht hat Essen gar nicht so viel mit den richtigen Nahrungsmitteln zu tun, sondern damit, welche Fragen dazu ungesund sind.
Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 08/19 ab Seite 32.
Alexandra Regner, PTA und Journalistin
Nils Binnberg: Ich habe es satt! Wie uns Ernährungsgurus krank machen.
Suhrkamp Verlag Berlin 2019, Klappenbroschur, 173 Seiten, ISBN 978-3-518-46938-5, 12,95 Euro