Nutrigenetik
GENE UND ERNÄHRUNG
Seite 1/1 6 Minuten
Die Nutrigenetik schlägt eine Brücke zwischen Genetik und Ernährungswissenschaften. Das längerfristige Ziel ist, mit Hilfe von Gen-Tests maßgeschneiderte Ernährungsempfehlungen anzubieten. Problematisch sind aber die Interpretation der Test-Daten und die komplexen Zusammenhänge im Stoffwechsel. Nur 0,3 Prozent der Erbsubstanz machen den Unterschied zwischen den Menschen aus. Doch genau dieser Bruchteil bestimmt unter anderem darüber, wie unser Stoffwechsel Nahrung aufnimmt und wieder abbaut. Wie gut oder schlecht die Nährstoffverwertung funktioniert, ist also eine Frage der Gen-Variation. Besonders bemerkenswert ist die Variation eines einzelnen Basenpaares, der Einzel-Nukleotid-Polymorphismus (single nucleotide polymorphism, SNP). SNPs sind im Gegensatz zu Mutationen vererbbar und können sich im Genpool einer Bevölkerung verankern.
So hat sich in Nordeuropa die Laktosetoleranz, also das Vertragen von Laktose, infolge eines Einzel-Nukleotid-Polymorphismus entwickelt. Es war ursprünglich nicht vorgesehen, dass erwachsene Säugetiere Milch trinken. Immerhin 15 Prozent der Europäer sind weiterhin laktoseintolerant. Bei ihnen wird das Gen für die Bildung von Laktase, dem Enzym, das Milchzucker in Glukose und Galaktose spaltet, nach dem Säuglingsalter nicht mehr abgelesen. Ein Einzel-Nukleotid-Polymorphismus in Genen, die mit Fettleibigkeit verbunden sind, erhöhte bei chinesischen Kindern und Jugendlichen das Risiko für Fettleibigkeit und Stoffwechselstörungen in der Kindheit. Mit einem Sequenzdetektionssystem wurden fünf spezielle Allele, Ausprägungen eines Gens, gefunden. Die einzelnen Allele waren mit einem höheren Body-Mass-Index (BMI) assoziiert, mit dem prozentualen Anteil an Fettmasse, mit dem Taillenumfang, mit dem Taillen-Größen-Verhältnis sowie mit dem Risiko für Fettleibigkeit. Ein Allel barg das Risiko für einen höheren BMI und dazu noch für eine Insulinresistenz.
Bei FTO-Variation sind Sport und Bewegung sinnvoll Eines dieser Allele ist das FTO-Gen (fat mass and obesity associated gene), das möglicherweise den größten Einfluss auf das Körpergewicht ausübt. Jüngst konnte gezeigt werden, dass die regulatorische Region von FTO am stärksten in Fettgewebe-Vorläuferzellen wirkt. Dort wird die Wärmeerzeugung in den Mitochondrien unterdrückt und die Entwicklung von den energieverbrauchenden, braunen Adipozyten hin zu energiespeichernden, weißen Fettzellen verlagert. Wie Ernährungsmediziner feststellten, lässt sich der Effekt des FTO-Gens durch Sport und Bewegung beeinflussen. Nicht jeder, der eine FTO-Genvariation in sich trägt, nimmt also automatisch zu. Liegt hingegen die Variante APOA2 des Apolipoprotein (APO)-Gens vor, werden gesättigte Fette aus Fleisch und Wurst besser verwertet als ungesättigte Fette aus Olivenöl oder Meeresfischen. Genvarianten des Lipoproteins APOE führen zu einem erhöhten Cholesterinspiegel im Blut, der das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöhen kann.
Die Nutrigenetik untersucht als Wissenschaft die Beziehung zwischen Ernährung und Genetik – insbesondere, inwiefern ernährungsbedingte Krankheiten durch die Genetik beeinflusst werden.
Ein riesiger Markt: Direct-to-consumer-Gentests In Anbetracht der massiven gesundheitlichen Auswirkungen konzentriert sich die Forschung besonders auf solche Gen-Varianten, die das Risiko für Übergewicht und Fettleibigkeit erhöhen. Weltweit leiden schätzungsweise 1,5 Milliarden Menschen an Adipositas, woraus sich ein erhöhtes Risiko für Typ 2-Diabetes und kardiovaskuläre Erkrankungen ergibt. Damit verbunden sind Störungen im Stoffwechsel und bei Entzündungsvorgängen. Kein Wunder, dass diese Dimension Diagnostikfirmen auf den Plan ruft, die direct-to-consumer (DTC) -Gentests mit personalisierten Ernährungs- und Abnehmprogrammen anbieten. Sind die Werbeversprechen hinsichtlich der individualisierten Ernährungsempfehlungen seriös? Die deutsche Gesellschaft für Humangenetik nimmt dazu explizit Stellung: Es sei ein Akt der Selbstbestimmung, Informationen über das eigene Genom zu erfragen und zu erfahren.
Die zunehmende Verbreitung frei verkäuflicher genetischer Analysen hingegen, die nach gezielter Werbung oft über das Internet vertrieben würden, sei jedoch mit Vorsicht zu betrachten. Denn nicht jeder Test ist klinisch relevant, oft sogar fragwürdig, wie beispielsweise medizinisch bedeutungslose Analysen genetischer Polymorphismen oder Lifestyle-Tests. Im Gendiagnostikgesetz sind Mindestanforderungen an Aufklärung, Einwilligung und Beratung festgelegt, auch im Umgang mit den Untersuchungsmaterialien sowie den daraus gewonnenen genetischen Informationen. Jeder Dienstleister, der solche Analysen anbietet oder durchführt, sollte also gesetzeskonform handeln und sich an die Anforderungen halten. Eine Forschungsgruppe gibt außerdem zu bedenken, dass durch Genom-Assoziationsstudien zwar krankheitsrelevante Regionen im Erbgut identifiziert werden können, die Interpretation der Daten jedoch eine Herausforderung ist.
Was empfinden die Verbraucher? Ist die Interpretation schon für Fachleute heikel, kann das für Laien erst recht problematisch werden. Wie eine Befragung verdeutlichte, äußerte ungefähr die Hälfte der Befragten Bedenken gegenüber dem direkten Verbraucher-Gentest, besonders im Hinblick auf das Verfahren und die Sachkenntnis. 3640 Personen im Alter von 18 bis 85 Jahren, die einen personalisierten Genom-Risiko-Test gekauft hatten, wurden webbasiert über ihre Wahrnehmung und Haltung gefragt. 49,7% hatten allgemeine Bedenken, den Test zu durchlaufen, wobei Frauen, Jüngere, Gebildete und ängstliche Personen ihre Bedenken eher zu Protokoll gaben. Wenn die klinische Aussagekraft und der Nutzen solcher Tests genau erklärt werden, dann könnte ein maßgeschneiderter genetischer Beratungsservice durchaus nützlich sein, so die abschließende Einschätzung.
Übergewicht beeinflusst das Epigenom Gene sind unveränderlich, doch das Epigenom ist Einflüssen des Lebensstils ausgesetzt. Alle unsere Zellen tragen das gleiche Erbgut, aber je nach Gewebe und Zelltyp ist jeweils ein anderer Teil davon aktiv. Reguliert wird dies über das sogenannte Epigenom. Das sind Modifikationen der DNA, die an bestimmten Stellen das Ablesen aktivieren oder blockieren, oft durch Anlagerungen von Acetyl- oder Methylgruppen. Dass sich der a a BMI, ein wichtiges Maß für das Übergewicht, direkt auf die Erbsubstanz auswirkt, zeigte eine hochaktuelle, groß angelegte Untersuchung aus Europa und Südasien. Ein erhöhter BMI beeinflusste die Methylierung der DNA, und zwar an 187 Stellen im Erbgut.
Die identifizierten Orte lagen in Genen, die in den Stoffwechsel von Lipiden und Lipoproteinen eingebunden sind, in den Transport von Substraten sowie in Entzündungswege. Assoziationsanalysen zeigten weiter, dass die Veränderungen der DNA-Methylierung vorrangig die Konsequenz einer Adipositas sind, nicht der Grund für Übergewicht. Damit wurde deutlich, dass Störungen in der Methylierung der DNA das zukünftige Risiko für Typ 2-Diabetes und andere klinische Konsequenzen des Übergewichtes vorhersagen.
Gewichtsverlust nach nutrigenetischer Ernährung? Dass Ernährungsempfehlungen, die auf den Resultaten von Gentests beruhen, nicht immer erfolgreicher sind als eine ausgewogene Standard-Ernährung, zeigte eine kontrollierte Studie mit 51 übergewichtigen US-Veteranen. Sie nahmen randomisiert entweder an einer auf einem genetischen Test basierten Diät teil (ausgewogen, kohlenhydratarm, wenig Fett oder mediterran) oder an einer ausgewogenen Standard-Ernährung. Nach 8 beziehungsweise 24 Wochen zeigte sich kein signifikanter Unterschied im Anteil derjenigen Personen, die fünf Prozent ihres Körpergewichtes verloren hatten.
Für alle Teilnehmer war es schwierig, ihre Diät zu befolgen. Erstaunlicherweise hatten diejenigen, die einen risikoarmen Fettleibigkeits-Polymorphismus aufwiesen, nach acht Wochen mehr Gewicht verloren als alle anderen Teilnehmer. Nach 24 Wochen verringerten sich bei ihnen der BMI und der Taillenumfang deutlicher. Eine auf Nutrigenetik-Tests abgestimmte Ernährung führt also nicht zwingend zu einem erhöhten Gewichtsverlust im Vergleich zu einer ausgewogenen Standard-Ernährung. Durch den Test könnten aber Personen leichter identifiziert werden, für die eine Diät besonders vorteilhaft wäre. Ob die ermittelten Risikopersonen wirklich von einer Lebensstiländerung profitieren, müsste in weiteren Studien abgeklärt werden.
Personalisierte Empfehlungen zur Diät-Unterstützung Eine solche Studie ist „Food4me“, die von der Europäischen Union unterstützt wurde. Darin zeigten personalisierte, detaillierte und maßgeschneiderte Ernährungsempfehlungen nach sechs Monaten einen größeren Effekt im Hinblick auf eine mediterrane Ernährung (MED-Diät) als allgemeine Ernährungsempfehlungen. Die 1607 Teilnehmer hatten entweder konventionelle Ernährungsratschläge erhalten oder personalisierte Empfehlungen: Diese basierten auf ihrer momentanen Ernährung, auf der momentanen Ernährung plus Blutzucker- und Cholesterinwerten oder auf momentaner Ernährung, Stoffwechselparametern und fünf ernährungsrelevanten Genvarianten, darunter FTO und APOE. Die Nahrungsaufnahme wurde zu Beginn und nach sechs Monaten mit einem Fragebogen ermittelt und jeweils in Punktzahlen der MED-Diät umgewandelt. Höhere Basis-Punkte in der MED-Diät waren mit einem gesünderen Lebensstil und weniger Übergewicht verbunden. Nach sechs Monaten waren die Punktzahlen der MED-Diät bei den Teilnehmern höher, die eine personalisierte Empfehlung erhalten hatten. Die Scores verbesserten am deutlichsten, wenn die Teilnehmer auch entsprechend ihrer Genvarianten beraten wurden. Obwohl die Unterschiede signifikant waren, bewertete man abschließend die klinische Relevanz eher als bescheiden.
Keine einfachen Lösungen Den Anwendern von direkten Verbraucher-Tests kommt es vor allem auf die individuelle Beratung und Begleitung vor und während des Testes an, die nur in einem persönlichen Kontakt gewährleistet ist. Von den molekularen Grundlagen her sind es keine monokausalen Zusammenhänge, die unseren Stoffwechsel auszeichnen. Meist ist nicht nur ein Enzym für die Verstoffwechslung einer Nahrungssubstanz verantwortlich, sondern mehrere. Chronische Erkrankungen wie Fettleibigkeit oder Typ 2-Diabetes werden schließlich durch eine Vielzahl von Genvariationen bestimmt. Die Zusammenhänge zwischen Genen und Ernährung sind also so komplex, dass vorerst keine gezielten, individuellen Empfehlungen für eine genbasierte Ernährung gegeben werden können. Unabhängig davon wird man von der neuen Forschungsrichtung auf jeden Fall noch viel hören.
Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 11/17 ab Seite 162.
Dr. Christine Reinecke, Diplom-Biologin