Tipps zur Entspannung
ERHOLUNG FÜRS GEHIRN?
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Sophia flüstert in die Kamera „Hey, ich bin´s.“ und „schminkt“ die Zuschauer in den Schlaf. Ihr Make-Up-Video soll allerdings keine Schmink-Tipps verraten, sondern gestressten Menschen Entspannung und Schlaflosen die verdiente Nachtruhe bieten. Bei ihrem Clip handelt es sich um ein sogenanntes ASMR-Video, wobei die Abkürzung ASMR für Autonomous Sensory Meridian Response, auf Deutsch: autonome, sensorische Meridianantwort steht, ein Begriff, der erst einmal nicht viel verrät. Unter diesem Stichwort findet man bei YouTube zahlreiche Clips, in denen Menschen flüstern, kämmen, rascheln, Zunge schnalzen, knistern, tröpfeln, blättern oder schneiden, um damit bei ihren Rezipienten für Beruhigung zu sorgen.
Zusammen mit den visuellen Reizen sollen die Geräusche „Tingles“ hervorrufen, das sind wohlige kribbelnde Wahrnehmungen, die vom Hinterkopf über den Nacken zum Oberkörper hin wandern. Die Gefühle werden als angenehm und beruhigend empfunden und durch akustische, optische oder taktile Trigger ausgelöst. Hierbei kann es sich um Geräusche (wie ein Rascheln, ein langsames Entfalten von Zeitungspapier oder ein sanftes Flüstern), um Zuwendung durch andere Personen (wie sie durch die Videos simuliert werden) oder um leichte Berührungen (zum Beispiel am Kopf beim Friseurbesuch) handeln. Bedeutsam scheint in diesem Zusammenhang zu sein, dass die Reize durch ein anderes Individuum erzeugt werden.
Chill versus Tingle Allerdings ist bei weitem nicht jeder Mensch für ASMR empfänglich, viele empfinden die Methode sogar als absurd. Personen, die auf die Videos reagieren, sind jedoch begeistert und sprechen von einem „Orgasmus fürs Gehirn“ – allerdings wird der sexuelle Kontext von den Nutzern konsequent zurückgewiesen. ASMR ist vom Gänsehaut-Effekt (sogenannten Chills) abzugrenzen, denn Tingles dauern über die gesamten Stimulation an, während eine Gänsehaut bereits nach wenigen Sekunden wieder verschwindet. Außerdem werden Tingles im Gegensatz zur Gänsehaut nicht von aufregenden, sondern von entspannenden Empfindungen begleitet.
Forschung in den Kinderschuhen Wissenschaftlich ist das Internet-Phänomen bislang wenig exploriert, sodass die Beurteilungen derzeit meist auf den Erfahrungen der Rezipienten beruhen. Die Auslöser der Tingles seien jedoch so unterschiedlich, dass man sie schlecht vergleichen und nachvollziehen kann. Der Neurologe Steven Novella von der Yale University School of Medicine hält es zumindest für plausibel, dass ASMR bei einigen Menschen denkbar ist. Er schlug vor, die Gehirnstrukturen von empfänglichen und nicht-empfänglichen Personen gegenüberzustellen.
Im Jahr 2013 wurde von William Kelley eine Studie am Darthmouth College Imaging Laboratory in den USA durchgeführt, die anhand von fMRT (funktionelle Magnetresonanztomographie) zeigen konnte, dass ASMR-Videos eine gesteigerte Aktivität somatosensorischer Systeme im Gehirn zur Folge hatten. Auch die zerebralen Gebiete, die für Selbstwahrnehmung und Empathie zuständig sind, wiesen eine erhöhte Aktivität auf. Eine weitere wissenschaftliche Untersuchung deutete mit Hilfe des fMRT darauf hin, dass bei ASMR-Rezipienten eine verstärkte Konnektivität bestimmter Default-Mode-Networks (DMN) vorlag. Hierbei handelt es sich um verschiedene Gehirnareale, die bei Inaktivität angeregt und beim Lösen von Aufgaben wiederum deaktiviert werden.
Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 12/18 ab Seite 64.
Martina Görz, PTA, Psychologin und Fachjournalistin