Erstaunte Frauengesichter © CREATISTA / iStock / Getty Images
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Verhütung

DIE PILLE WURDE 60

Die erste Antibabypille hatte eine gesellschaftliche Revolution zur Folge: Erstmals war es Frauen möglich, Sexualität und Fortpflanzung voneinander zu trennen.

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Der erste Anstoß zur Entwicklung eines empfängnisverhütenden Arzneimittels kam von einer New Yorker Krankenschwester: Margaret Sanger, selbst Teil einer elfköpfigen Geschwisterschar, wurde von ihrem Ehemann 1902 zum Abbruch ihrer Ausbildung gezwungen – das durften Ehemänner damals noch, ganz legal. Von da an ließ Margaret das Thema nicht mehr los: Nach der Geburt dreier Kinder war sie in den New Yorker Slums als Krankenschwester unterwegs und erlebte hautnah mit, was für ein Elend fehlende Familienplanung auslösen kann. Sie warf ihren Ehemann hinaus und fortan gab es nur noch ein Thema in ihrem Leben: Informationen über Verhütung an die Frau zu bringen.

Margaret Sanger wurde zur Frauenrechtlerin und verfasste Rundbriefe über Geburtenkontrolle, bei deren Verteilung sie sich nicht erwischen lassen durfte – denn es galt nicht nur als heilige Pflicht der Frauen, Kinder zur Welt zu bringen, sondern bereits der Wille zur Verhütung war strafbar. Nicht nur einmal landete sie dafür kurzzeitig im Gefängnis. Wurde eine Frau damals schwanger und sie wollte das Kind nicht zur Welt bringen, blieb ihr nur eine gefährliche Abtreibung bei der sogenannten „Engelmacherin“, die nicht selten tödlich endete und natürlich auch illegal war. Sanger wünschte sich ein Präparat, so einfach einzunehmen wie eine Kopfschmerztablette.

Glücklicher Zufall Sanger gründete die erste amerikanische Klinik für Familienplanung und Geburtenkontrolle. In ihrer Brownsville-Klinik lernte sie die Feministin und Wissenschaftlerin Katherine McCormick kennen. Diese war schwerreich und stellte kurzentschlossen zwei Millionen Dollar zur Verfügung, um ein Forschungsinstitut in Worcester, Massachusetts zu sponsern. Dort war die Hypothese aufgestellt worden, dass die orale Gabe des Hormons Progesteron den Eisprung verhindern kann. Der Physiologe Gregory Pincus, der Gynäkologe John Rock und der Chemiker Carl Djerassi arbeiteten fortan mit Hochdruck daran – bis es schließlich dem Ungarn Djerassi gelang, als erster Progesteron synthetisch im Labor herzustellen.

1956 klinischer Massentest Ein nur auf dem amerikanischen Markt erhältliches Kombinationspräparat aus Progesteron und Estrogen namens Enovid® wurde an Freiwillige in einem Armenviertel von Puerto Rico kostenlos verteilt. Mehr als 200 Frauen meldeten sich. Als die katholische Kirche das mitbekam, wetterte sie im Fernsehen gegen diese neue „Pille“, brandmarkte sie als gefährlich und die Einnahme als unmoralisch. Ein Zehntel der Frauen stieg daraufhin aus dem Programm aus – alle von ihnen wurden kurz darauf schwanger. „Danach hatten wir nie wieder ein Problem, Freiwillige zu finden. Sie kamen in Scharen, nicht nur Frauen aus der Landbevölkerung, sondern auch Lehrerinnen, Sozialarbeiterinnen, einfach alle“, erinnert sich der an der Studie beteiligte Arzt Celso-Ramon Garcis. Nach Abschluss dessen, was heute als Phase-​III bezeichnet würde, wurde eine Gesamt-Versagerquote von weniger als einem Prozent ermittelt – damit war die Pille effektiver als jedes andere praktikable Verhütungsmittel.

1960 kam Enovid® auf den Markt Die Pille war nun in amerikanischen Apotheken gegen Rezept erhältlich. Allerdings nur zur Behandlung von Menstruationsbeschwerden – wer also zu schmerzhaften und starken Regelblutungen neigte, konnte es sich vom Arzt verschreiben lassen. Was nun folgte, war eine epidemieartige Steigerung dieser Beschwerden – in Wirklichkeit kam es den Frauen natürlich auf die in einem kleinen Nebensatz versteckte Nebenwirkung an: die der „vorübergehenden Infertilität“.

Um dem Unsinn ein Ende zu machen, erwirkte der Hersteller bei der amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA schließlich eine offizielle Zulassung des Präparates als hormonelles Verhütungsmittel. Der Ansturm war enorm – auch wenn 17 amerikanische Staaten zunächst den Verkauf verboten. Schon 1963 nahmen fast 2,3 Millionen Amerikanerinnen die Pille, zwei Jahre später waren es schon sieben Millionen. Endlich war es den Frauen möglich, sich von der Sorge zu befreien, zum Beispiel mitten während der Ausbildung schwanger zu werden, denn das war noch vor fünfzig Jahren der Hauptgrund für einen Studienabbruch bei Studentinnen.

1961 auch in Deutschland Hier hieß die erste Antibabypille Anovlar®. Sie hatte eine etwas andere Zusammensetzung, die sich als besser verträglich erwies. Trotzdem war dieses erste hormonelle Verhütungsmittel immer noch eine rechte Hormonbombe: Eine Tablette enthielt so viel wie heute eine ganze Monatspackung. Doch das nahmen die Frauen gern auf sich, waren sie doch damit endlich Herrin ihres eigenen Lebens und konnten selbst bestimmen, wann sie Kinder haben wollten. Leicht war es übrigens auch in Deutschland nicht, die „Pille“ verschrieben zu bekommen: Man musste verheiratet und über 30 Jahre alt sein, zudem bereits zwei bis drei Kinder haben.

Manche Apotheker weigerten sich, das Präparat zu verkaufen, und besonders viele Ärzte waren es auch nicht, die sich der Verschreibung öffneten. In einer Denkschrift forderten fast 200 Ärzte und Wissenschaftler „den biologischen und charakterlichen Verfall des deutschen Volkes zu bekämpfen“. Auch der Papst hatte eine Meinung dazu: Empfängnisverhütung sei „Todsünde im Ehebett“. Aber es half alles nichts, die Pille wurde immer beliebter. 1976 verhüteten bereits ein Drittel aller westdeutschen Frauen im gebärfähigen Alter mit der Pille.

Eine Pille für Frauen und erwünschte Kinder Die moralische Empörung und die medizinischen Unsicherheiten der Anfangszeit sind mittlerweile abgeklungen. Die Pille ist ein ganz normales, gesellschaftlich voll akzeptiertes Verhütungsmittel. Carl Djerassi, der Chemiker der ersten Stunde, hasste übrigens den Begriff „Antibabypille“: „Das ist erstmal eine Pille für Frauen und für erwünschte Kinder“ wetterte er. Die amerikanische Krankenschwester mit der zündenden Idee, Margaret Sanger, war übrigens Gründungsmitglied bei der deutschen Pro Familia, die aus der amerikanischen Organisation Planned Parenthood entstand.

Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 11/2020 ab Seite 68.

Alexandra Regner, PTA und Journalistin

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