© DIE PTA IN DER APOTHEKE
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Bücher, von denen man spricht

DIE ESSGESTÖRTE GESELLSCHAFT

Magersucht ist eine der Krankheiten mit der höchsten Todesrate bei jungen Menschen. Vielleicht auch deshalb ist das Buch „Size Zero“ von der Ärztin Dagmar Pauli innerhalb kürzester Zeit zum Bestseller geworden

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Dagmar Pauli, deren Job es ist, verzweifelten Familien zu helfen, mit Anorexie, Bulimie und Binge eating klarzukommen, war schockiert: Eine schöne junge Frau lächelte sie von einem Plakat herab an und warb für Schönheitsoperationen der Brust mit dem Slogan: „Meine Dinger, mein Ding“ – direkt vor dem Eingang der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, deren Chefärztin sie ist. „Das war der Tag, an dem mir der Kragen platzte“, sagt sie. Der Tag, an dem sie beschloss, ein Buch über Essstörungen zu schreiben, das sich nicht nur an Fachleute richtet

„Plus Size“ ist Normalgewicht Wie konnte es dazu kommen, dass wir heute derart festgefahrene schlankheitsfixierte Körperideale haben? In denen Models, die die völlig normale Kleidergröße 40 tragen, als „Plus Size“ gelten? Und in denen in den sozialen Netzwerken diejenigen gefeiert werden, die ihren eigenen Bauchnabel anfassen können, wenn sie um den Körper herumgreifen – Belly Button Challenge genannt?

Size Zero, die weibliche Körpergröße Null (32 beziehungsweise XXS) wurde zum Synonym für Selbstdarstellungen auf Online-Plattformen mit Vorher-Nachher-Selfies. Jugendliche, deren Gehirne von klein auf mit Bildern zugekleistert wurden von superdünnen Stars und Models, können leicht auf die Idee kommen, extremes Untergewicht sei ein erstrebenswerter Zustand. Denn sogar in den amerikanischen Serien auf Netflix gewinnt immer die schlanke, hübsche Hauptdarstellerin, selbst wenn sie zu Anfang noch dicker war – sie hat sich garantiert ein paar Kilo abgehungert.

Dick gleich undiszipliniertDagmar Pauli nennt das eine „essgestörte Gesellschaft“. Die Liste der Vorurteile, die Menschen der westlichen Industrienationen verbinden, ist lang: Sie gelten als „faul dumm und wenig erfolgreich, willensschwach und undiszipliniert“, sagt Pauli. „Und wenn wir womöglich mit Schaum vor dem Mund über die Jugendlichen und ihre Nutzung von Instagram diskutieren, dürfen wir eines nicht vergessen: Die Mädchen haben sich diese seltsamen Maße nicht selbst ausgedacht. Es sind die Verantwortlichen der Modeindustrie, die Models mit Thigh Gaps auf die Laufstege schicken und als Cover der Modemagazine ablichten, welche den jungen Mädchen als Vorbilder dienen.“

Thigh Gap, das sei hier gesagt, bedeutet einen Trend, bei dem die Oberschenkel so dünn sind, dass sie sich beim Stehen mit geschlossenen Beinen nicht berühren. Ganz besonders scharf schießt die Mutter dreier Töchter in diesem Zusammenhang auf Sendungen wie „Germany’s Next Topmodel“: Das Perfide an diesem Format sei nicht nur, dass ein einseitiges Schönheitsideal in Gestalt einer langbeinigen und schmalhüftigen Modepuppe zelebriert werde. Denn hinzu käme, dass die jungen Frauen für jeden Schönheitsfehler und jede Schwäche von der Jury erbarmungslos kritisiert und bis zum Nervenzusammenbruch erniedrigt würden.

Negative Beeinflussung Junge Mädchen versicherten ihr regelmäßig, dass sie sich davon keinesfalls beeinflussen lassen würden, schreibt Pauli. Aber sie tun es eben doch. Sie zerstören damit ihr Selbstbild, ihre Gesundheit und manchmal kostet es sie sogar ihr Leben. Wann sollten Eltern aufmerksam werden? Wenn ihr Kind trotz Normalgewichtes über mehrere Wochen ständig an Gewicht verliert oder – bei Übergewicht – schnell sehr viel. Wenn es direkt nach dem Essen verschwindet und Ausreden findet, um nicht an den Mahlzeiten teilnehmen zu müssen. Wenn es sich zurückzieht, bleich wird, Ringe unter den Augen zu sehen sind, es ständig friert oder zwanghaft Sport betreibt und nicht mehr still sitzen kann, dann sollten die Erwachsenen Hilfe suchen.

Denn eine Essstörung wird von den Betroffenen häufig nicht als solche wahrgenommen und sie wehren sich mit Händen und Füßen dagegen, zuzunehmen. Um das zu verhindern, verheimlichen sie ihren Gewichtsverlust, bis es nicht mehr zu verbergen ist, oder sie erbrechen sich heimlich direkt nach den Mahlzeiten. Es dauert oft lange, bis Eltern dem auf die Spur kommen. Auch entwickeln sich Essstörungen meist schrittweise aus einer vermeintlich harmlosen „Diät“ – wenn Anorektiker oder Bulimiker das, was schiefläuft, erkennen, ist es für eine einfache Umkehr meist schon zu spät.

Erste Anzeichen erkennen Je früher gehandelt wird, umso besser sind die Erfolgschancen, mahnt Pauli. Keinesfalls hilft es, wenn die Familie Druck aufbaut: Es ist kontraproduktiv ständig über Nahrungsmittel und deren Menge zu reden, auch Wutausbrüche und Drohungen („Wenn du jetzt nicht isst, darfst du nicht ins Kino!“) führen zu nichts. Pauli gibt in ihrem Buch klare Tipps: Wenn die Eltern die ersten Anzeichen einer Essstörung erkennen, sollten sie das Gespräch mit dem Kind suchen. Sie sollen klar und deutlich ihre Beobachtungen mitteilen. Danach wird den Jugendlichen Zeit gegeben, ihren Standpunkt zu äußern und die Eltern hören gut zu.

Nur so kann der Weg zur Beurteilung durch Fachpersonal geebnet werden. Dagmar Pauli legt Wert auf die Feststellung, dass es jede Familie, jeden Jugendlichen treffen kann: „Eltern haben nicht Schuld am Ausbruch der Essstörung ihres Kindes. Und ich rate allen Familien, sich nicht in den Kreislauf gegenseitiger Beschuldigungen zu verstricken. Meiner persönlichen Erfahrung nach sind es oft ganz normale Familien, in denen einer eine Essstörung entwickelt.“ Die Fachärztin zeigt in ihrem Buch, wie Therapien funktionieren, beschreibt anschaulich, dass die Weiterentwicklung der Methoden die Mortalitätsrate dieser Krankheit senkt, und gibt den Betroffenen das Gefühl, nicht mehr so ausgeliefert zu sein: Information hilft.

Dialog in Augenhöhe Zum Schluss richtet sie verschiedene Kapitel direkt an Betroffene, Verursacher und Mit-Leidende. Sie sind auf Augenhöhe geschrieben: „Liebe Jugendliche, die anderen wissen nicht unbedingt, dass alles bei dir mit so viel Angst verbunden ist. Sie meinen vielleicht, es sei Starrköpfigkeit oder nur eine Flause von dir.“ An die Eltern: „Alles, was wir tun, ist in den Augen der Betroffenen falsch – aber nichts zu tun, ist noch falscher.“

An die Modeindustrie: „Die Plus-Size-Industrie ist eine Scheinlösung, die auf den Müllhaufen der Modegeschichte gehört. Normale BMIs als Plus-Size zu definieren (…) befeuert Selbstzweifel junger Menschen.“ Wenn also demnächst ein Rezept über Fluoxetin oder Aripiprazol ankommt, das für einen Jugendlichen ausgestellt wurde – beides sind Medikamente, die gegen Essstörungen verordnet werden können – kann weiterführende Lektüre empfohlen werden. 

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 11/18 ab Seite 130.

Alexandra Regner, PTA und Journalistin

Dagmar Pauli: Size Zero – Essstörungen verstehen, erkennen, behandeln.
C.H.Beck Paperback, 224 Seiten mit 50 Abbildungen, Klappenbroschur, € 16,95.
Auch als E-Book erhältlich.

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