Kunstblut
DER WATTWURM, UNSER FREUND UND HELFER
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Er ist unscheinbar, ein bisschen eklig und seht aus wie ein aus der Fasson geratener Regenwurm: Der Wattwurm ist jedem geläufig, der schon einmal an der Nordsee war. Zumindest seine Kothaufen. Denn die erinnern an eine Miniportion Spaghetti-Eis. Überall sind sie zu finden, wenn sich bei Ebbe das Wasser zurückzieht und den Sandboden freilegt. Dann kann man den Wurm sogar manchmal bei der Arbeit betrachten: Unablässig gräbt er sich durch seine Gänge, die mit einem sogenannten Fresstrichter beginnen und mit einem Auswurfloch enden. Denn er hat nur ein einziges Nahrungsmittel: Sand. Den reinigt er von allen organischen Bestandteilen und scheidet ihn dann wieder aus. „Das“, sagt ein Wattführer, „ist der sauberste Sand überhaupt.“ Auch wenn es nicht so aussieht.
25 Kilogramm Sand vertilgt der kleine Wurm jährlich; und alle Würmer zusammen graben das gesamte Nordseewatt einmal im Jahr um und machen es so richtig sauber. Arenicola marina, so sein offizieller Name, ist einer der wenigen Würmer, von denen es Männlein und Weiblein gibt. Die treffen sich allerdings nie; nur einmal im Jahr bei Vollmond im Oktober (kein Witz) geben beide Geschlechter jeweils Sperma und Eier ab; letztere entwickeln sich in den Grabgängen der Weibchen zu Larven und werden von der Mutter nach dem Schlüpfen sofort hinausgeworfen. Die kleinen Würmchen ziehen sich in die nährstoffreichen Miesmuschelbänke zurück und bleiben dort etwa zwölf Monate. Wenn sie groß und stark geworden sind, kehren sie an die Aufenthaltsorte ihrer Eltern zurück; nach zwei Jahren sind sie geschlechtsreif und das Spiel beginnt von neuem.
Scharf auf den Wattwurm ist vor allem der Austernfischer. Mit seinem langen roten Schnabel lauert er an den Auswurföffnungen der Grabgänge. Sobald sich dort etwas bewegt, stochert er im Boden herum – und bekommt doch nur immer das Hinterteil des Wurmes zu fassen. Das kann dieser praktischerweise abtrennen, und es wächst danach ein neues nach.
Der Biologe Franck Zal von der Université Pierre et Marie Curie in Paris züchtete die Würmer im Namen der Wissenschaft. Dabei stieß er zufällig auf eine Besonderheit des Tieres: Sein Hämoglobin-Molekül. Hämoglobin ist bei Mensch und Tier für den Transport des Sauerstoffs im Blut erforderlich. Beim Wattwurm ist das Molekül riesig, 50-mal so groß wie beim Menschen. Während unser Hämoglobin vier Sauerstoff-Moleküle binden kann, schafft der Wattwurm 156. Und das Beste: Wattwurmblut ist nicht an eine Blutgruppe gebunden, denn sein Farbstoff kommt frei im Blut vor, braucht also keine roten Blutkörperchen als Träger.
Sobald Zal diese Besonderheit erkannte, kündigte er bei der Uni und gründete sein eigenes Start-up. Er entwickelte ein Verfahren, mit dem sich das Wurmhämoglobin zu Pulver verarbeiten lässt. Und das hält sich viel länger als eine herkömmliche Blutkonserve, nämlich zweieinhalb Jahre. Die Beutel mit Spenderblut bleiben nur 42 Tage frisch und müssen zudem gekühlt aufbewahrt werden – das alles entfällt bei Zals Granulat. Eine Anwendung findet dies vor allem in der Transplantationsmedizin, bei der große Mengen an Blut benötigt werden. Oder aber in der Unfallmedizin, wo ebenfalls viel Bedarf besteht, und das schnell – das Pulver wird einfach mit Wasser aufgegossen und ist gebrauchsfertig. Klinische Studien zu „Hemarina M101“ beginnen in diesem Jahr. Zals kleines Start-up hat mittlerweile über 40 Mitarbeiter und bereits millionenschwere Übernahmeangebote von Pharma-Firmen erhalten. Doch Zal ahnt, dass das wirtschaftliche Potential dahinter riesig ist und macht selbst weiter. Mittlerweile bezieht er seine Würmer aus speziellen Zuchtfarmen; denn das, was er selbst im Watt findet, reicht schon längst nicht mehr.
Denn Zal hat noch andere Ideen: Nährlösungen aus dem Wurmhämoglobin, das Spenderorgane mit Sauerstoff versorgt zum Beispiel. Das könnte das Transplantationsfenster von Stunden auf Tage verlängern. Oder Auflagen für schlecht heilende chronische Wunden bei Diabetikern: Durch Wattwurm-Moleküle im Hydrogel kann Sauerstoff von außen nach inne zur Wunde geleitet werden. Auch für Schlaganfallpatienten könnte das Wurmblut durch seine große Aufnahmefähigkeit von Nutzen sein.
Denn Zal hat noch andere Ideen: Nährlösungen aus dem Wurmhämoglobin, das Spenderorgane mit Sauerstoff versorgt zum Beispiel. Das könnte das Transplantationsfenster von Stunden auf Tage verlängern. Oder Auflagen für schlecht heilende chronische Wunden bei Diabetikern: Durch Wattwurm-Moleküle im Hydrogel kann Sauerstoff von außen nach innen zur Wunde geleitet werden. Auch für Schlaganfallpatienten könnte das Wurmblut durch seine große Aufnahmefähigkeit von Nutzen sein.
Wozu braucht der kleine Wurm eigentlich so ein großes Molekül? Da seine Wohnung aus Grabgängen öfters überspült wird, kann er den Sauerstoff aus dem Wasser effizient abspeichern und so auch längere Notzeiten überstehen. Sein alleiniges Nahrungsmittel ist ja zum Glück überreichlich vorhanden. Und so frisst er sich weiterhin durchs Nordseewatt, mit seinem besonderen Hämoglobin-Molekül, das einen Vorläufer unseres Sauerstoff-im-Blut-Transporters darstellt und entwicklungsgeschichtlich mehrere Millionen Jahre alt ist. Unscheinbar währt eben am längsten.
Alexandra Regner,
PTA und Journalistin
Quellen:
https://www.heise.de/tr/artikel/Blut-aus-dem-Watt-3780909.html
https://www.deutschlandfunkkultur.de/blutersatz-blutkonserven-aus-wattwuermern.976.de.html?dram:article_id=386484
https://ostfrieslandreloaded.wordpress.com/2017/08/31/lebensrettend-blut-vom-wattwurm/
https://www.welt.de/print-welt/article240625/Wattwuermer-liefern-Kunstblut-fuer-den-Menschen.html
https://www.watthanse.de/wie-lernt-man-auf-einer-wattwanderung-den-koenig-des-wattenmeeres-kennen/