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Antidote

ACETYLCYSTEIN

N-Acetylcystein oder kurz ACC ist ein Alleskönner: Lebensretter, Aminosäurequelle und Zerstörer von Disulfidbrücken zugleich. So kann die Substanz auch eine lebensbedrohliche Intoxikation mit Paracetamol abwenden.

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Wie der Name schon verrät ist Acetylcystein (ACC) ein Derivat der in der Natur vorkommenden Aminosäure Cystein. ACC wird einerseits als Expectorans in der Therapie des produktiven Hustens, bei Bronchitis oder bei Mukoviszidose eingesetzt. Andererseits ist es auch als Aminosäure-Lieferant Bestandteil von Infusionslösungen bei Niereninsuffizienz, Leberinsuffizienz, hepatischer Enzephalopathie oder in der Dialyse. Nach oraler Gabe beträgt die Plasmahalbwertszeit circa 60 Minuten.

ACC unterliegt einem ausgeprägten First-Pass-Effekt, bei dem es zur Deacetylierung, also zur Abspaltung des Acetylrestes kommt und L-Cystein entsteht. Durch Spaltung von Disulfidbrücken, die in den Mukopolysacchariden des Bronchialschleimes vorkommen, wird der festsitzende, zähe Schleim verflüssigt und kann besser abgehustet werden. ACC ist wenig toxisch, besitzt eine große therapeutische Breite und zeigt wenig unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW). Außerdem dient ACC dem Organismus als Cystein-Quelle. Aus Cystein synthetisiert der Körper Glutathion, eine für die Biotransformation wichtige Substanz. Aus dieser Eigenschaft heraus begründet sich der Einsatz von Acetylcystein als Antidot bei Intoxikationen mit Paracetamol, Chloroform und Tetrachlorkohlenstoff sowie Acrylnitril, Methacrylnitril und Brommethan.

Paracetamol (PCM) Paracetamol gehört zu den meistverkauften Substanzen im Bereich der Selbstmedikation, zur Behandlung von Schmerzen und Fieber. Leider kommt es aber auch immer wieder zu lebensbedrohlichen Überdosierungen, besonders bei Säuglingen, Kleinkindern und älteren Personen. Deshalb ist es für das Beratungsgespräch besonders wichtig, auf die richtige Dosierung und das richtige Dosisintervall hinzuweisen, die Grenzen des Einsatzes von PCM zu kennen sowie die Symptome einer Intoxikation zu erkennen. Die Biotransformation von PCM erfolgt in der Leber auf zwei Wegen: Es entstehen hauptsächlich Konjugate mit Glucuronsäure oder Schwefelsäure. Ein kleiner Teil wird über Cytochrom P450 biotransformiert und führt zur Bildung des aktiven Metaboliten N-Acetyl-p-benzochinonimin, der wiederum sofort durch Glutathion entgiftet und durch Cystein und Mercaptursäure gebunden wird.

Gewicht geht vor Alter! Die Dosierung ist nach Alter und Gewicht gestaffelt, wobei das Gewicht jedoch vorrangig zu beachten ist. Allgemein gilt:10 bis 15 Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht (mg/kg KG) als Einzeldosis, in drei bis vier Einzelgaben im Abstand von sechs bis acht Stunden, maximal 60 mg/kg KG/Tag. Eine besondere Beachtung der Dosierung beginnt bereits bei Leber- oder Nierenfunktionsstörung, nicht erst bei Insuffizienz. Gleiches gilt für Menschen, die gleichzeitig Medikamente einnehmen, welche die Leberfunktion beeinträchtigen, ebenso dehydrierte Personen oder Menschen, die unter Glucose-6-​Phosphat-Dehydrogenase- oder Glutathion-Mangel leiden. Zu beachten ist die Interaktion mit Probenecid, das die Bindung von PCM an Glucuronsäure hemmt und zur Kumulation von PCM führen kann. Auch eine zeitgleiche Therapie mit Cytochrom P450-Enzyminduktoren, wie Phenobarbital, Phenytoin oder Carbamazepin kann zu kumulierten Dosen und somit zum Tod führen. Denn sehr hohe Dosen PCM können von der Leber nicht ordnungsgemäß metabolisiert werden.

Vor allem die Konjugationsreaktion ist in ihrer Kapazität schnell erschöpft, sodass noch viel unverändertes PCM für den Metabolismus über das CYP450 zur Verfügung steht. Die Glutathionreserven sind schnell aufgebraucht und aus Mangel an Cystein kann Glutathion auch nicht schnell genug nachsynthetisiert werden. Somit ist auch dieser Metabolisierungsweg am Ende: die Biotransformation bleibt auf der Stufe des toxischen Metaboliten N-Acetyl-p-benzochinonimin stehen, der nicht weiter entgiftet werden kann. Er bindet dann an zelluläre Proteine der Leber und wirkt so hepatotoxisch. Dadurch kommt es zu Leberzellnekrosen und klinischem Leberversagen. Von einer Paracetamol-Intoxikation spricht man beim gesunden Erwachsenen, wenn die toxische Plasmakonzentration über 200 mg PCM pro Liter Blut liegt. Letale Dosen bei Kleinkindern sind bereits mit der Erwachsenendosierung von einem Gramm PCM erreicht.

ACC rettet Leben Schon bei einem geringen Verdacht auf Intoxikation mit Paracetamol ist die Rettungskette anzustoßen: Der Rettungsdienst muss innerhalb der ersten zwei Stunden Aktivkohle verabreichen, in der Notaufnahme kann auch eine Magenspülung in Erwägung gezogen werden. Auch bei ACC muss schnell gehandelt werden, nur innerhalb der ersten zehn Stunden nach der Überdosierung ist die i.v.-Gabe sinnvoll. Acetylcystein kann von den Hepatocyten (Leberzellen) zur Neusynthese von Glutathion genutzt werden.

Steht nun ausreichend Glutathion zur Verfügung, kann der hepatotoxische Paracetamol-Metabolit weiter entgiftet werden und dessen Angriff auf die Leberzellen bleibt aus. Acetylcystein wirkt ebenfalls direkt auf N-Acetyl-p-benzochinonimin ein, indem es diesen Metaboliten teils reduziert, bindet und so entgiftet. Zusätzlich wird durch Acetylcystein die weitere Metabolisierung über die Sulfat-Konjugation aufgestockt, da es auch noch die Verfügbarkeit des aktiven Sulfats erhöht. Nach seiner Deacetylierung wirkt ACC darüber hinaus als Enzyminhibitor von Cytochrom P450 und verringert damit die Bildung des toxischen Metaboliten.

Vielseitig, aber giftig Als Ausgangsstoff für die Herstellung von verschiedenen Acrylverbindungen, Bestandteil in Klebstoffen, Emulgatoren oder als Lösungsmittel findet Acrylnitril seinen Einsatz. Es ist eine inhalative Vergiftung möglich, bei der sich Acrylnitril an SH-​Gruppen von Proteinen und Enzymen bindet und toxisch wirkt. Liegt eine orale Vergiftung vor, wird zunächst mit 4-Dimethylaminophenol (DMAP) begonnen, danach Natriumthiosulfat langsam i.v. gegeben und erst dann mit ACC behandelt, das als SH-Donator fungiert. Methacrylnitril wird ebenfalls für Polymerisationsreaktionen verwendet. Vergiftungen passieren durch Inhalation oder durch kutane Resorption, wobei es durch die Bildung und Freisetzung von Blausäure zu toxischen Wirkungen auf das zentrale und periphere Nervensystem kommt. ACC entgiftet zusammen mit weiteren Maßnahmen, da es Methacrylnitril über seine SH-Gruppe bindet und dadurch die Freisetzung von Blausäure verringert.

Achtung: Schädlingsbekämpfungsmittel Brommethan oder Methylbromid werden unter anderem zur Begasung von Containern, beim Befall mit Holzschädlingen sowie zur Entwesung von Böden eingesetzt. Vergiftungen führen bei der Inhalation von Methylbromid zur Übertragung von Methyl-Gruppen auf Proteine und Glutathion, wobei die Proteinstrukturen zerstört werden und Glutathion in neurotoxisches Methanthiol umgewandelt wird. Acetylcystein bindet die Methylgruppe, indem es den Methylrest an seine SH-Gruppe anlagert.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 07/19 ab Seite 90.

Bärbel Meißner, Apothekerin

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