Vakzination
WAS MODERNE IMPFUNGEN MIT EINEM MILCHMÄDCHEN ZU TUN HABEN
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Edward Jenner, Landarzt im englischen Cheltenham, saß in seinem Behandlungszimmer und brütete über Papieren. Da die Tür offen stand, wurde er unfreiwilliger Zeuge eines Gespräches unter zwei seiner Patientinnen, die im Wartezimmer saßen. Es ging um eine Inokulation, der damals üblichen Bezeichnung für den Vorläufer der Impfung. Sie bräuchte das nicht mehr, sagte die eine Magd zur andern: „Pocken kann ich nicht mehr kriegen, denn ich hatte ja schon die Kuhpocken.“ Die Legende hielt das fest in einer eigenen Wortschöpfung: dem Milchmädchen-Mythos.
Der Zusammenhang zwischen der für Menschen ungefährlichen Kuhpocken und den potenziell tödlichen „echten“ Pocken bestand zwar schon länger, war aber noch keinem so richtig aufgefallen. Vor allem keinem Mediziner. Denn die Existenz von Viren und Bakterien war den Menschen noch völlig unbekannt. Der Nachweis des Bacillus anthracis, dem Krankheitserreger des Milzbrands, gelang Robert Koch erst 1876, indem er durch das Okular seines Mikroskops blickte. Der Apparat, der Objekte stark vergrößerte, war erst kurz zuvor zur Laborreife gelangt, und Koch musste Sonnenlicht abwarten, damit er durch seine Linsen überhaupt etwas sehen konnte.
Ohne dass die Menschen also um die winzig kleinen Erreger wussten, hatten sie schon eine Ahnung davon, dass das Material leicht Erkrankter dazu dienen konnte, die bisher Gesunden vor der Krankheit zu schützen. Im Zentrum der Bemühungen standen dabei die Pocken, auch Blattern genannt. Die durch Orthopoxvirus variolae verursachte Infektionskrankheit gibt es schon so lange, dass sie bereits im Alten Testament wortreich beschrieben wird. Überstand man die Pocken, behielt man am ganzen Körper entstellende Narben zurück. Zur Lebenszeit Jenners starben pro Jahr 400 000 Menschen daran, rund 30 Prozent der Erkrankten. Die Krankheit war hochansteckend.
Vermutlich Anfang des zweiten Jahrtausends in Zentralasien entstand die Methode, Material aus den bereits verkrusteten Pusteln zu entnehmen und dieses über einen kleinen Hautschnitt, einer gesunden Person zu verabreichen. Man nannte diese Technik Inoculierung, ein Wort, das später von „Variolation“ abgelöst wurde. Über Persien gelangte die Methode nach China und über die Türkei nach Afrika und Europa. Im „Goldenen Spiegel der Medizin“, einem chinesischen Standardwerk für Studenten, wurden 1742 allein vier verschiedene Methoden beschrieben – eine davon war, zermahlene Pockenkrusten über die Nase zu schnupfen.
Einer Engländerin ist es zu verdanken, dass die Variolation auf der Insel Fuß fasste. Sie hatte sich längere Zeit in Konstantinopel aufgehalten und dort ihren Sohn inoculieren lassen, woraufhin er sich als immun gegen die Pocken erwies. Der englische König zeigte sich daraufhin vorsichtig interessiert, ließ das Verfahren aber zur Sicherheit erst einmal an Sträflingen und Waisenkindern testen, bevor er seine Enkelkinder variolieren ließ. Ihm eiferten später verschiedene Vertreter des Hochadels nach. Der Vorläufer der Impfung war also bestimmten Gesellschaftsschichten vorbehalten. Die Variolation war nicht ungefährlich: Die Impfmethode konnte durchaus zu einem Ausbruch der echten Krankheit führen. Denn der Wirkstoff war ja immer noch virulent, es war, wie wir heute sagen würden, ein attenuierter Lebendimpfstoff.
Das änderte sich, als Edward Jenner mit der Lymphe und dem Hautmaterial von Kuhpocken experimentierte. Der achtjährige James Phipps, Sohn seines Gärtners, erlangte so medizinhistorische Berühmtheit, denn er war der erste Proband, den der Arzt „vaccinierte“ (von lat. vacca – die Kuh). Dazu kratzte er etwas Kuhpockenpustel-Material von der Hand der Melkerin Sarah Nelmes. Selbst das Datum ist festgehalten: Sorgfältig notierte der Arzt den 14. Mai 1976. Um seine Entdeckung zu verfestigen, impfte Jenner etwas später seinen Sohn – auch er bestand die Gegenprobe mit (menschlichem) Pockeneiter. Beide Kinder blieben kerngesund.
Es dauerte nicht lange, bis sich die Methode des freundlichen und sozial eingestellten Landarztes durchsetzte. Jenners großes Verdienst bestand nicht nur allein in der Entdeckung des Zusammenhangs von Kuh – und Menschenpocken, sondern vor allem darin, dass er sich seine Impfmethode nicht patentieren ließ. Denn er wusste, dass sich die ärmeren Bevölkerungsschichten diese Errungenschaft ansonsten nicht leisten konnten – nicht umsonst war das Variolieren bisher allein eine Angelegenheit der oberen Zehntausend gewesen. So trat die Methode Jenners ihren Siegeszug auch in Europa an: de Carro impfte in Wien seine Söhne, Strohmeyer startete groß angelegte Impfversuche in Hannover, Osiander in Göttingen, Hufeland in Jena, Heim in Berlin. Napoleon Bonaparte ließ sogar alle seine Soldaten gegen Pocken impfen und verlieh Jenner darüber hinaus eine Ehrenmedaille, was insofern bemerkenswert war, als dass er gerade mit den Engländern Krieg führte. Die russische Kaiserin schenkte dem Landarzt einen kostbaren Diamantring und der amerikanische Präsident Thomas Jefferson dankte ihm in einem öffentlichen Brief.
1840 schließlich, Jenner war längst tot, verbot England die Variolation und führte die neue Methode auch offiziell ein: Die Vakzination trat ihren Siegeszug an. Und wenn heute hitzig über die Einführung einer Impfpflicht diskutiert wird – damals fackelte man nicht lange. Das Königreich Bayern führte schon 1807 eine verpflichtende Impfung ein, Russland folgte 1812, das Deutsche Reich 1874. Immer vor dem Hintergrund, dass man noch gar nicht verstand, wie eine Impfung überhaupt funktionierte – nämlich indem sie die Immunantwort des Körpers aktivierte.
Es dauerte zwar noch bis 1980, dass die Weltgesundheitsorganisation den Globus offiziell für pockenfrei erklärte. Edward Jenner hätte das sehr gefreut. Er starb im Jahr 1823 mit 73 Jahren – nicht an den Pocken, sondern an einem Herzinfarkt.
Alexandra Regner,
PTA und Journalistin
Quellen: Kay Peter Jankrift: Berühmte Ärzte im Porträt
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