Eine Frau im Anzug kniet im Bett über einem Mann, der ebenfalls Anzug trägt.
Die Entwicklung der Pille hat es Frauen ermöglicht, Sexualität unabhängig von Fortpflanzung zu erleben. © Artem Peretiatko / iStock / Getty Images Plus

Familienplanung

„TODSÜNDE IM EHEBETT“: DIE PILLE WIRD 60

Welch gesellschaftliche Revolution es darstellt, als in den sechziger Jahren die erste Antibabypille auf den Markt kommt, kann sich heute kaum einer vorstellen: Erstmals ist es Frauen möglich, Sexualität und Fortpflanzung voneinander zu trennen. Die „Pille“ wird dieser Tage 60. Zeit für einen Rückblick.

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Der erste Anstoß zur Entwicklung eines empfängnisverhütenden Arzneimittels kommt von einer New Yorker Krankenschwester: Margaret Sanger, selbst Teil einer elfköpfigen Geschwisterschar, wird von ihrem Ehemann 1902 zum Abbruch ihrer Ausbildung gezwungen – das durften Ehemänner damals noch, ganz legal. Von da an lässt Margaret das Thema nicht mehr los: Nach der Geburt dreier Kinder ist sie in den New Yorker Slums als Krankenschwester unterwegs und erlebt hautnah mit, was für ein Elend fehlende Familienplanung auslösen kann. 1914 wirft sie ihren Ehemann hinaus, und fortan gibt es nur noch ein Thema in ihrem Leben: Informationen über Verhütung an die Frau zu bringen. Margaret Sanger wird zur Frauenrechtlerin und verfasst Rundbriefe über Geburtenkontrolle, bei deren Verteilung sie sich nicht erwischen lassen darf – denn es gilt nicht nur als heilige Pflicht der Frauen, Kinder zur Welt zu bringen, sondern der Wille zur Verhütung ist sogar strafbar. Nicht nur einmal landet sie dafür kurzzeitig im Gefängnis.

Wurde eine Frau damals schwanger und sie wollte das Kind nicht zur Welt bringen, blieb ihr nur eine gefährliche Abtreibung bei der so genannten „Engelmacherin“ übrig, die nicht nur tödlich enden konnte, sondern auch illegal war. Verhütungsmethoden sind damals umständlich, unbequem und unsicher. Sanger wünscht sich ein Präparat, so einfach einzunehmen wie eine Kopfschmerztablette. Diesen Traum zieht sie mit größter Beharrlichkeit durch. Sie gründet die erste amerikanische Klinik für Familienplanung und Geburtenkontrolle. Als sie während der Arbeit wieder einmal verhaftet wird und für einen Monat ins Arbeitshaus kommt, bringt sie den dortigen Mit-Insassinnen alles über Verhütung bei. Unbeirrt führt sie nach ihrer Freilassung ihre Brownsville-Klinik weiter – und lernt dabei die Feministin und Wissenschaftlerin Katherine McCormick kennen. Zum Glück – denn die ist schwerreich und stellt kurzentschlossen zwei Millionen Dollar zur Verfügung, um ein Forschungsinstitut in Worcester, Massachusetts zu sponsern. Dort war die Hypothese aufgestellt worden, dass die orale Gabe des Hormons Progesteron den Eisprung bei der Frau verhindern kann. Der Physiologe Gregory Pincus, der Gynäkologe John Rock und der Chemiker Carl Djerassi arbeiten fortan mit Hochdruck daran – bis es schließlich dem Ungarn Djerassi gelingt, als erster Progesteron synthetisch im Labor herzustellen. Er wird deshalb als „Vater der Antibabypille“ bezeichnet (besser gefällt ihm allerdings das Wort „Mutter“).

Die empfängnisverhütende Wirkung der Antibabypille beruht im Wesentlichen auf drei Wirkmechanismen: Der Ovulationshemmung durch Unterdrückung der LH- und FSH-Sekretion (Luteinisierendes und Follikelstimulierendes Hormon) aus der Hypophyse, der Verhinderung einer Einnistung durch Beeinflussung der Gebärmutterschleimhaut sowie der Erhöhung der Viskosität des Zervixschleims, was die Spermien am Fortkommen behindert.

Erst 1956 beginnt der erste größere klinische Massentest. Ein nur auf dem amerikanischen Markt erhältliches Kombinationspräparat aus Progesteron und Estrogen namens Enovid® wird an Freiwillige in einem Armenviertel von Puerto Rico kostenlos verteilt. Mehr als 200 Frauen melden sich. Als die katholische Kirche das mitbekommt, wettert sie im Fernsehen gegen diese neue „Pille“, brandmarkt sie als gefährlich und die Einnahme als unmoralisch. Ein Zehntel der Frauen steigt daraufhin aus dem Programm aus – alle von ihnen werden kurz darauf schwanger. „Danach hatten wir nie wieder ein Problem, Freiwillige zu finden. Sie kamen in Scharen, nicht nur Frauen aus der Landbevölkerung, sondern auch Lehrerinnen, Sozialarbeiterinnen, einfach alle“, erinnert sich der an der Studie beteiligte Arzt Celso-Ramon Garcis. Nach Abschluss dessen, was heute als Phase-III bezeichnet würde, wird eine Gesamt-Versagerquote von weniger als einem Prozent ermittelt – damit ist die Pille effektiver als jedes andere praktikable Verhütungsmittel.

Am 1. August 1960, vor 60 Jahren, kommt Enovid® auf den Markt und ist in amerikanischen Apotheken gegen Rezept erhältlich. Allerdings nur zur Behandlung von Menstruationsbeschwerden – wer also unter schmerzhaften und starken Regelblutungen neigt, kann es sich vom Arzt verschreiben lassen. Was nun folgt, ist eine epidemieartige Steigerung dieser Beschwerden – in Wirklichkeit kommt es den Frauen natürlich auf die in einem kleinen Nebensatz versteckte Nebenwirkung an: die der „vorübergehenden Infertilität“. Das erinnert ein wenig an eine weiteren berühmten Fall: Auch Sildenafil wurde einmal für Herzbeschwerden entwickelt.

Um dem Unsinn ein Ende zu machen, erwirkt der Hersteller bei der amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA schließlich eine offizielle Zulassung des Präparates als hormonelles Verhütungsmittel. Der Ansturm ist enorm – auch wenn 17 amerikanische Staaten zunächst den Verkauf verbieten. Schon 1963 nehmen fast 2,3 Millionen Amerikanerinnen die Pille, zwei Jahre später sind es schon sieben Millionen. Endlich ist es den Frauen möglich, sich von der Sorge zu befreien, zum Beispiel mitten während der Ausbildung schwanger zu werden, denn das war noch vor fünfzig Jahren der Hauptgrund für einen Studienabbruch bei Studentinnen.

Am 1. Juni 1961 kommt die Antibabypille schließlich auch in Deutschland auf den Markt. Hier heißt sie Anovlar® und enthält eine etwas andere Zusammensetzung, die sich als besser verträglich erweist. Trotzdem ist dieses erste hormonelle Verhütungsmittel immer noch eine rechte Hormonbombe: Eine Tablette enthält so viel wie heute eine ganze Monatspackung. Doch das nehmen die Frauen gern auf sich, sind sie doch damit endlich Herrin ihres eigenen Lebens und können selbst bestimmen, wann sie Kinder haben wollten. Leicht ist es übrigens nicht, die „Pille“ verschrieben zu bekommen: Man muss verheiratet und über 30 Jahre alt sein, zudem bereits zwei bis drei Kinder haben. Manche Apotheker weigern sich, das Präparat zu verkaufen, und besonders viele Ärzte sind es auch nicht, die sich der Verschreibung öffnen. Die Antibabypille stellt das herrschende Gesellschaftsbild auf den Kopf, in der Frauen zur Eröffnung ihres eigenen Kontos noch die Zustimmung ihres Ehemanns brauchen. In einer Denkschrift fordern fast 200 Ärzte und Wissenschaftler „den biologischen und charakterlichen Verfall des deutschen Volkes zu bekämpfen“. Auch der Papst hat eine Meinung dazu: Empfängnisverhütung sei „Todsünde im Ehebett“.

Aber es hilft alles nichts, nicht mal die Intervention des Papstes: Die Pille wird immer beliebter. Die Ärzte ziehen Ende der 70-er Jahre endlich nach – nachdem Studien belegen, dass das Medikament doch nicht so einen Krebs- und Thrombose-Trigger darstellt wie angenommen. 1976 verhütet bereits ein Drittel aller westdeutschen Frauen im gebärfähigen Alter mit der Pille. An Fortschrittlichkeit ist die DDR übrigens hier der BRD voraus: Ab 1965 wird das Kontrazeptivum flächendeckend eingeführt, schon sieben Jahre später bekommt es jede Frau kostenlos auf Rezept in der Apotheke.

Heute hat sich die Pille, die nach wie vor eines der am häufigsten verwendeten Verhütungsmittel darstellt, weiterentwickelt. Es gibt weiterhin Einphasenpräparate, deren Zusammensetzung über die gesamte Einnahmedauer gleichbleibt: Auf eine Einnahmedauer von 21 Tagen folgt ein siebentägiges tablettenfreies Intervall mit einer Entzugsblutung. Da besonders die Erstrogen-Dosis im Lauf der Jahrzehnte immer mehr gesenkt wurde, ist für diese niedrig dosierten Präparate auch der Begriff „Mikropille“ gebräuchlich. Neuere Präparate verkürzen mittlerweile das hormonfreie Intervall von sieben auf vier Tage; als Vorteil werden geringere hormonelle Schwankungen und deren Wirkung beispielsweise auf depressive Verstimmung postuliert. Seltener ist hingegen der Einsatz von Mehrphasenpräparaten: Bei den Zweiphasenpräparaten ist in der ersten Zyklusphase der Estrogen-Gehalt höher, in der zweiten Phase dagegen das Gestagen höher dosiert. Dieses Verhältnis ist bei den Dreiphasenpräparaten sogar noch mehr an den natürlichen Zyklusverlauf angepasst. Seit 2009 gibt es auch ein Vierphasenpräparat.

Immer mehr kommt auch die Langzeiteinnahme in Gebrauch, das heißt: Einnahme über zwölf Wochen ohne Unterbrechung, gefolgt von einem siebentägigen hormonfreien Intervall, in dem eine Entzugsblutung eintritt. Dies ist besonders bei Frauen von Vorteil, bei denen die Entzugsblutung wegen einer Endometriose starke Beschwerden verursacht oder die unter zyklusabhängigen Migräneattacken leiden.

In der Notfallkontrazeption kommen im Gegensatz zu den regulären hormonellen Kontrazeptiva ausschließlich Gestagene zum Einsatz. Zur Verfügung stehen zurzeit Levonorgestrel, dessen Einnahme bis zu 72 Stunden nach ungeschütztem Geschlechtsverkehr möglich ist. Vor dem Eisprung eingenommen, wird dieser verschoben oder ganz verhindert. Ulipristalacetat, ein weiterer Wirkstoff, kann sogar bis zu fünf Tage nach ungeschütztem Verkehr angewendet werden. Beide Präparate sind mittlerweile rezeptfrei in den Apotheken erhältlich, wobei in jedem Einzelfall eine ausführliche Beratung dokumentiert werden sollte.

Da alle hormonellen Verhütungsmittel spezielle Einnahmerisiken wie Thromboembolien aufweisen, muss der Arzt bei Verschreibung genau abwägen, wem er die Pille verschreibt. Bei Frauen mit vorausgegangen Thrombosen, Lungenembolie, akuten Lebererkrankungen, schwer behandelbarem Bluthochdruck, ausgeprägter Diabetes, die zudem über 35 sind und rauchen, wird häufig ein anderes Kontrazeptivum wie beispielsweise eine Spirale verschrieben.

Wirkungsbeeinträchtigungen kann es bei der Einnahme von Antibiotika, Echtem Johanniskraut, Antiepileptika wie Carbamazepin, Modafinil oder bestimmten Fettbindern zur Gewichtsreduktion geben. PTA und Apotheker sollten darauf hinweisen.

Das ist eine Pille für Frauen und für erwünschte Kinder.

Die moralische Empörung, die medizinischen Unsicherheiten der Anfangszeit sind mittlerweile abgeklungen. Die Pille ist ein ganz normales, gesellschaftlich voll akzeptiertes Verhütungsmittel geworden. Carl Djerassi, der Chemiker der ersten Stunde, hasste übrigens den Begriff „Antibabypille“: „Das ist erstmal eine Pille für Frauen und für erwünschte Kinder“ wetterte er. Da er sehr alt wurde – er starb 2015 91-jährig – wurde ihm im Ruhestand langweilig und erfand nebenbei eine neue Romangattung: die „Science-in-fiction“. Er schrieb zudem mehrere Theaterstücke und empfand es als lästig, ständig auf das Verhütungsmedikament reduziert zu werden. Die amerikanische Krankenschwester mit der zündenden Idee, Margaret Sanger, wurde wiederum Gründungsmitglied bei der deutschen Pro Familia, die aus der amerikanischen Organisation Planned Parenthood entstand.

Alexandra Regner,
PTA und Journalistin

Quellen:

www.nzz.ch/die_antibabypille_seit_50_jahren_auf_dem_markt-1.7249223


www.pharmazeutische-zeitung.de/die-pille-wird-60-115929/


www.deutschlandfunk.de/erste-anti-baby-pille-die-taegliche-dosis-freiheit.871.de.html

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