Eigenhändiges Musizieren trainiert das Gehirn. Doch auch das bloße Zuhören hat einen therapeutischen Effekt. © ipopba / iStock / Getty Images Plus

Musiktherapie

DIE HEILENDE KRAFT DER MUSIK

Frau M., 86, lebt im Altersheim. Sie hat Demenz mittleren Grades und rührt sich kaum noch aus dem Bett. Summt jedoch ihr Pfleger den Radetzky-Marsch vor sich hin, springt sie auf und marschiert mit ihm im Stechschritt über den Flur.

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Diese Episode erzählt Eckart Altenmüller in seinem Buch „Vom Neandertaler in die Philharmonie – Warum der Mensch ohne Musik nicht leben kann“. Er geht darin unter anderem der Frage nach, welchen Einfluss Musik auf unser Gehirn hat und ob sie sogar zu heilen vermag.

Anne-Sophie Mutter, 56, spielt seit ihrem fünften Lebensjahr Geige. Sie, die in den bedeutendsten Konzertsälen der Welt auftritt, soll nun den Musikpreis Praemium Imperiale erhalten, eine Art Nobelpreis für Künstler. Was macht sie so außergewöhnlich? Und warum nahm sie bereits als Kind die Tortur auf sich, den ganzen Tag Noten zu üben?

Diese beiden Ereignisse führen direkt zum Thema: Musik. Was haben sie miteinander zu tun? Warum gibt es Melodien und Klänge und zu was sind sie eigentlich nütze?

Musik, mutmaßt Altenmüller, war bereits vor der Sprache da, allerdings in ungeordneter Weise. Sie ist Teil eines emotionalen Kommunikationssystems, das Menschen mit vielen Säugetieren teilen. Grunzen, Ächzen, Stöhnen – mit Sicherheit kannten Neandertaler diese Ausdrucksformen ebenfalls. Im Lauf der Evolution haben sich dann unser Gehör, unsere Feinmotorik und der Stimmapparat verfeinert, sodass Gesten der Hände als Zeichensprache irgendwann in kontrollierte Bewegungen der Zunge, des Mundraumes und der Lippe übergingen. Altenmüller, der Direktor des Instituts für Musikphysiologie und Musiker-Medizin der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover und darüber hinaus Konzertmusiker und Neurologe ist, beschreibt das so: „Der Alltag der Vorläufer der Menschen war hart, und es bestand ein Bedürfnis nach Trost, Vergessen und bedingungsloser Gemeinschaft. Das war die Zeit, in der die Musik, wie wir sie heute kennen, erfunden wurde.“

Der Wissenschaftler geht noch weiter und wählt eine ganz bestimmte Definition: „Musik sind bewusst gestaltete, in der Zeit gegliederte und nichtsprachliche akustische Ereignisse in sozialen Zusammenhängen. Für diese Definition spricht, dass Musik in zahlreichen sozialen Kontexten stattfindet und häufig auch soziale Funktionen erfüllt. Musik unterscheidet sich wesentlich von Sprache, denn sie bezeichnet keine Dinge der äußeren Welt. Der Satz „Die Sonne scheint“ kann nicht einfach in Musik ausgedrückt werden. Allerdings kann Musik das positive Lebensgefühl an einem warmen, sonnigen Frühlingstag vermitteln.“

Ist das vielleicht die Antwort darauf, dass Frau M. der Radetzky-Marsch so unmittelbar in die Beine fährt? Ja und nein. Denn Töne und Melodien werden in einem besonderen Teil des Gehirns abgespeichert: Die Nervenzentren, die in der Hörrinde liegen, sind vom Absterben der Nervenzellen erst sehr spät betroffen. Das heißt, selbst wenn die Demenz sehr weit fortgeschritten ist und Sprachfähigkeit, räumliche Orientierung und biographisches Gedächtnis weitgehend verloren sind, kann die Musik Demenzkranke Patienten noch erreichen und zur Entspannung, Angstlösung und motorischen Aktivierung beitragen.

Von hier ist es nicht weit zu der Annahme, dass Musik auch zu heilen vermag. Und tatsächlich wird sie bei Depressionen und Schlaganfällen, auf Frühgeborenenstationen, bei komatösen Patienten und in der Altersmedizin eingesetzt. Regelmäßiges Hören von selbst ausgewählter beruhigender Musik kann den Blutdruck senken sowie chronische Entzündungen des Darms und rheumatische Schmerzen lindern. Allgemein reduziert Musik die Schmerzwahrnehmung.

Denn Musik macht etwas mit dem Gehirn. Sie bewirkt ein Phänomen namens Neuroplastizität.

Plastizität …
ist die Bezeichnung für die Eigenschaft einzelner Synapsen, Nervenzellen und ganzer Gehirnareale, sich in Abhängigkeit von ihrer Verwendung zu verändern. Dieser Umbau dient dazu, die Funktionen des Nervensystems zu erhalten, anzupassen und gegebenenfalls zu erweitern. Plastizität ist somit eine Grundlage von Lernprozessen.


Das kann man sehr gut bei Musikergehirnen studieren. Wenn man, wie Anne-Sophie Mutter, bereits als Kleinkind an die Musik herangeführt wird und darüber hinaus hoch motiviert ist, sodass Übungsstunden nicht aus lästiger Pflicht, sondern aus Freude und Aufmerksamkeit bestehen, verändert sich die Struktur des Gehirns. Dazu gehören rasche Anpassungen der Signalübertragung an den Nervenendknöpfchen – Synapsen genannt -, und zwar innerhalb von Sekunden. Sie äußern sich aber auch im Wachstum von Synapsen, Nervenzellfortsätzen (Dendriten) und Neuronen, das mehrere Stunden bis Tage dauert. Die Dendriten übertragen die Impulse dann schneller und genauer. Und die Nervenzellen sterben nicht so schnell wie sonst üblich, denn sie sind ständig gefordert. Da die neuronalen Netzwerke mehr Sauerstoff benötigen, entstehen Blutkapillaren, die ebenfalls zu einer Vergrößerung des betreffenden Hirnrindenabschnittes beitragen: So ist bei Geigern der Bereich, der für die linke Hand zuständig ist, sehr viel ausgedehnter als bei Nichtmusikern. Im Grunde ist die Anpassung des Nervensystems an geistiges oder musikalisches Training mit den Anpassungsvorgängen der Muskulatur infolge von körperlichem Training vergleichbar.

So wird die Kapazität des Gehirns und seine Fähigkeit, neue Vernetzungen zwischen Hand- und Hörregionen wie bei Musikern entstehen zu lassen, mittlerweile auch bei Schlaganfallpatienten genutzt. MUT – musikunterstütztes Training der Feinmotorik nach Schlaganfällen – heißt eine Therapie, in der Patienten das Klavierspielen beigebracht wird. Nach und nach wurden zunächst einzelne Finger der beeinträchtigten Hand bewegt, dann zu komplizierteren Melodien und Fingerbewegungen übergegangen. Am Ende des Trainings können die Patienten einfache Lieder mit beiden Händen spielen, ihre Feinmotorik hat sich messbar verbessert. Eine zweite Therapieform besteht im Singen – die melodische Intonationstherapie (MIT) nutzt den Umstand, dass Schlaganfallpatienten oftmals zwar nicht mehr sprechen können, aber noch in der Lage sind, alte Melodien wie Kinderlieder oder die Nationalhymne zu singen. Man nimmt in solchen Fällen an, dass in diesen Fällen die sprachdominante linke Hirnhälfte mit der Broca-Region zerstört ist, also eine motorische Aphasie vorliegt, dass aber die „musikalische“ rechte Hirnhälfte noch funktioniert. MIT reaktiviert also nach einem Schlaganfall die Sprachkompetenz der rechten Hirnhälfte.

Man muss übrigens nicht erst Klavierspielen lernen, um als Schlaganfall-Patient neurologische Fortschritte zu machen – bereits das Musikhören reicht. Musiktherapeuten aus Helsinki kamen zuerst auf die Idee: Sie spielten gerade eingelieferten Schlaganfallpatienten über zwei Monate ihre Lieblingsmusik vor. Eine Kontrollgruppe hörte eine Stunde ihre Lieblings-Hörbücher; eine weitere Kontrollgruppe erhielt keine zusätzlichen Anregungen. Die Ergebnisse nach drei Monaten waren nahezu überwältigend: Die Musikgruppe war nicht nur weniger depressiv – ihre Aufmerksamkeit, das Wortgedächtnis und sogar die Sprachfertigkeiten waren besser als in den anderen beiden Gruppen.

Das führt zu einem anderen Feld der Musiktherapie: Depressionen. Bereits im Alten Testament wird die Geschichte des jugendlichen Hirten David erzählt, der mit seinem Harfenspiel den schwermütigen König Saul aufheitert. Und die bekannten „Goldberg-Variationen“ entstanden, weil ein schlafloser Fürst Johann Sebastian Bach beauftragte, dem Hofcembalisten beruhigende Klänge und Melodien zu komponieren. Bach variierte in den Tonstücken jeweils die gleiche Grundharmonie in immer wieder anderen Variationen – der Fürst konnte endlich wieder schlafen und belohnte den Komponisten mit vielen goldenen Louis d’Or, der wertvollsten Münze dieser Zeit.

Berufsmusiker wie Anne-Sophie Mutter verfügen also über veränderte Großhirnstrukturen. Bei ihnen bestehen dichtere Vernetzungen zwischen den beiden Hirnhälften und sie besitzen größere motorische Hirnregionen, ausgedehntere Hörareale sowie ein größeres Broca-Sprachzentrum, denn Musiker „sprechen in Klängen“. Auch die sensorischen Regionen sind viel großflächiger als bei Laien. Wenn auch nicht jeder auf den Konzertpodien dieser Welt spielen kann – Altenmüller fordert, bereits unseren Kindern statt dem uferlosen Gebrauch von Smartphone und Co eine Teilhabe an der Musik zu ermöglichen, „weil sie uns einen der wenigen Zugänge zu den Dimensionen des Unaussprechlichen bietet.“ Auch Mutter bemängelt den Stellenwert, der dem Musikunterricht heute in der Schule zugewiesen wird: Höchstens zwei Stunden gäbe es pro Woche und die klassische Musik werde in eine „Elfenbeinecke geschoben, wo sie nicht hingehört: Wieviel ist es uns wert, im täglichen Leben eines kleinen Kindes das Bewusstseinsfenster zu öffnen für eine Welt, die die Imaginationskraft fördert?“

Die Förderung des Musizierens im Kindesalter hat übrigens weitreichende Folgen: Diese Kinder haben ein besseres Wortgedächtnis, erkennen Emotionen im Stimmklang leichter und haben in einer lauten Umgebung weniger Probleme, Sprache zu verstehen (was in einer Kindestagesstätte nicht ganz unwichtig ist). Neuere Befunde legen auch nahe, dass musizierende Kinder kooperativer und hilfsbereiter sind – Musik fördert die emotionale Kompetenz. Und auch wenn in diesem Alter noch niemand daran denkt: Musizieren beugt, neben anderen anspruchsvollen geistigen Tätigkeiten, dem Entstehen einer Demenz vor.

Alexandra Regner,
PTA und Journalistin

Quellen:
Eckart Altenmüller: Vom Neandertal in die Philharmonie. Warum der Mensch ohne Musik nicht leben kann. Springer, 2018

www.concerti.de

www.br-klassik.de

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