Aderlass
BLUTEN FÜR DIE GESUNDHEIT?
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Der Aderlass ist eine der ältesten Therapien der Medizin. Schon in der Antike kam er bei Fieber- oder Entzündungskrankheiten zum Einsatz und sollte den Körper entgiften und entlasten. Das Heilverfahren entwickelte sich aus zwei Ideen. Zum einen glaubte man an die Blutfülle , wonach der Körper zu viel Blut bildete, das sich staute und verdarb.
Die zweite Vorstellung, die dem Aderlass zugrunde lag, war die Humoralpathologie, die der griechische Arzt Hippokrates um 400 v. Chr. entwickelte. Ihr zufolge wirken im menschlichen Körper vier Säfte: Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle. Nur bei einem Gleichgewicht aller Säfte ist der Mensch gesund.
Ein Ungleichgewicht kann durch eine spezielle Diät, durch Arzneimittel, aber auch durch eine Blutentnahme wieder ausgeglichen werden. Man zapfte das „schlechte“ Blut an verschiedenen Körperstellen, meist jedoch am Unterarm, ab. Wie viel Blut abgenommen wurde, lag im Ermessen des Arztes. Danach wurde die Blutung mit einem Druckverband gestillt; in seltenen Fällen wurde die Wunde auch vernäht.
Universaltherapie Im Mittelalter kam der Aderlass richtig in Mode. Man setzte ihn gegen fast alle Krankheiten ein, sei es die Pest, Fieber, Gicht oder Übergewicht. Neben Ärzten führten auch Bader einen Aderlass durch – sie hatten zwar keine medizinische Ausbildung, waren dafür aber für jedermann erschwinglich. Häufig wurde viel zu viel Blut abgezapft, manchmal ein Liter oder mehr.
Bedenkt man, dass ein erwachsener Mensch über fünf bis sechs Liter Blut verfügt, wundert es nicht, dass die sowieso schon geschwächten Patienten häufig eher am Blutverlust als an der ursprünglichen Krankheit starben. Obwohl der englische Arzt William Harvey 1628 den Blutkreislauf entdeckte und sich das medizinische Weltbild damit tiefgreifend änderte, hielt sich der Aderlass als therapeutische Maßnahme noch bis weit ins 19. Jahrhundert.
Moderne Anwendung Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die ausleitende Therapie durch den österreichischen Arzt Bernhard Aschner neu entdeckt. Heute entnimmt man allerdings vergleichsweise geringe Blutmengen, je nach Anamnese, Symptomatik, Blutbild, Geschlecht und Alter zwischen 50 und 500 Milliliter (bei einer Blutspende wird ebenfalls diese Menge „abgezapft“). Natürlich wird der Eingriff mittlerweile mit einer sterilen Kanüle durchgeführt.
Beim Aderlass kommt es zu einem Volumenverlust, der dadurch ausgeglichen wird, dass aus dem Zwischenzellgewebe eiweißarme Flüssigkeit nachströmt – das Blut wird verdünnt. Außerdem werden durch die Bewegung im Gefäßsystem schädliche Stoffe schneller abtransportiert.
Nachweisbare Effekte Tatsächlich wird die Fließgeschwindigkeit des Blutes erhöht und auch der Eisenwert deutlich gesenkt. Aus diesem Grund setzt man den Aderlass auch heute noch bei zwei lebensbedrohlichen Krankheiten ein: der Hämochromatose und der Polyzythämie. Bei der Hämochromatose nimmt der Körper vermehrt Eisen aus der Nahrung auf, das er in verschiedenen Organen speichert, vor allem jedoch in der Leber.
Es kommt zu einer regelrechten Eisenvergiftung, die unbehandelt schon früh zu Zellschäden und meist bereits in der vierten Lebensdekade zu lebensbedrohlichen Organschäden führt. Für Patienten mit Hämochromatose ist der lebenslang zu wiederholende Aderlass somit eine wichtige und nebenwirkungsfreie Möglichkeit, die zu hohen Bluteisenwerte zu senken.
Bei der Polyzythämie handelt es sich hingegen um eine Knochenmarkserkrankung, die dazu führt, dass zu viele Blutzellen gebildet werden. Hierdurch wird das Blut dickflüssig und es besteht ein erhöhtes Risiko für Thrombosen. Durch einen regelmäßigen Aderlass wird das Blut wieder verdünnt und somit die Thrombosegefahr gesenkt.
Blutspende gegen Bluthochdruck In der Naturheilkunde wird der Aderlass bei Durchblutungsstörungen, Migräne, Rheuma, Arthritis, Gicht, aber auch bei Hauterkrankungen und Stimmungsschwankungen eingesetzt. Der Aderlass soll entgiften und entschlacken, und durch erhöhte Blutzirkulation und Zellbildung das Immunsystem stärken. Daher kommt er in der Naturheilkunde sogar vorbeugend zum Einsatz.
Eine Studie der Charité in Berlin zeigte, dass ein Aderlass den systolischen Wert bei Bluthochdruckpatienten durchschnittlich um bis zu 16 mmHg senken kann. Auch hier geht man davon aus, dass der verminderte Eisenwert die Ursache sein könnte, denn Eisen steht in Verdacht, die Elastizität der Gefäßwände herabzusetzen. Sollte sich dieser therapeutische Vorteil des Aderlasses in weiteren Studien bestätigen, könnte auch die caritative Form des Aderlasses, die Blutspende, eine ganz neue Facette bekommen.
ZUSATZ-INFORMATIONEN
Aderlass nach Mondphasen
Generell gibt es jedoch kaum Studien zur Wirksamkeit des Aderlasses. Darüber hinaus tragen spezielle Ansätze, wie zum Beispiel der Aderlass nach Hildegard von Bingen, auch noch esoterische Züge. Die Ordensschwester und Universalgelehrte aus dem 12. Jahrhundert empfiehlt den Aderlass nur in den ersten sechs Tagen nach Vollmond und nur nüchtern. Danach muss eine Woche lang eine strenge Diät eingehalten werden.
Es wird relativ wenig Blut entnommen, höchstens etwa 180 Milliliter. Aber auch vorher wird der Aderlass sofort beendet, wenn der „Farbumschlag“ eintritt. Dann wechselt die Blutfarbe von beinahe schwarz zu einem satten Hellrot – das „schlechte“ Blut ist abgeflossen, das „gute“ verbleibt im Körper. Viele Heilpraktiker bieten diese Leistung heute noch an und tragen dadurch sicherlich auch dazu bei, dass die Therapieform weiterhin umstritten ist.
Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 10/13 ab Seite 112.
Dr. Holger Stumpf, Medizinjournalist