Repetitorium
ARZNEIMITTELRISIKEN – TEIL 3
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Dank der erreichten Sicherheitsstandards im Arzneimittelverkehr haben heute zugelassene Medikamente ein sehr hohes Sicherheitsniveau. Dennoch existieren weitere Risiken. Diese sind zum einen einer liberalisierenden Auslegung der Gesetzgebung geschuldet – auch wenn insgesamt gesehen die Lücken in den letzten Jahrzehnten immer weniger wurden. Zum anderen kann auch der Arzneimittelanwender ein Sicherheitsrisiko darstellen. Positiver formuliert: Der verantwortliche Umgang mit den jeweiligen Arzneimitteln trägt zur Risikominimierung bei.
Risiko Arzneimittelversand & Co. Seitdem der deutsche Gesetzgeber den Versandhandel von apotheken- wie verschreibungspflichtigen Medikamenten aus Apotheken mit behördlich erteilter Versandhandelserlaubnis zugelassen hat, gewinnt das Internet als Informationsquelle und Bestellplattform für Arzneimittel mehr und mehr an Bedeutung. Gerade bei verschreibungspflichtigen Medikamenten wurden für den Versand strenge Sicherheitsbedingungen formuliert. So muss ein ärztliches Rezept vorliegen, Betäubungsmittelhaltige Arzneimittel, auch bestimmte Schlaf-, Beruhigungs- oder starke Schmerzmittel dürfen nicht per Post versandt werden.
Leider gibt es immer wieder Meldungen, dass diese Sicherheitsstandards nicht vollständig eingehalten werden. Auch kann sich häufig nur im persönlichen Beratungsgespräch mit dem Arzt beziehungsweise Apotheker die richtige, sinnvolle Medikation herauskristallisieren. Diese Beratung unterbleibt im Internethandel häufig – was Risiken einer Fehlmedikation bis hin zum Fehlgebrauch birgt.
Hinzu kommen dubiose, wahrhaft illegale Internetangebote, die vom Verbraucher schwer von legalen, ungefährlichen Angeboten zu unterscheiden sind. Die ständig zunehmende Zahl sichergestellter Arzneimittelfälschungen belegen die bedenkliche Gefahrenlage. Fälschungssichere Hologramme, Strichcodes mit Herkunftsnachweis auf der Verpackung, wie sie – dank EU-Initiative – bis 2012 auf Arzneimitteln aufgebracht werden sollen, werden Pharmafälschungen eindämmen, aber nicht vollständig verhindern können.
Auswüchse wie Arzneimittel-Pick-up-Stellen in Drogeriemärkten, Tankstellen, Reinigungen oder Blumenläden unterliegen derzeit sogar keiner signifikanten Kontrolle der Aufsichtsbehörden, da entsprechende Regulierungsvorschriften fehlen. Eine Arzneimittellagerung oder -abgabe im Sinne des Arzneimittelgesetzes findet dort nicht statt. Insofern bleibt es Risiko des Verbrauchers, ob er das richtige Päckchen erhält und ob es zuvor richtig gelagert wurde. Hinzu kommt die Gefahr der Trivialisierung des Arzneimittels. Sie werden nicht mehr als Ware besonderer Art vom Verbraucher wahrgenommen.
Risiko: keine Zulassung Rezepturen bei denen die wesentlichen Herstellungsschritte tatsächlich in der Apotheke vor Ort erfolgen, unterliegen nicht dem Instrument der Zulassung, welches einen wesentlichen Baustein der Arzneimittelsicherheit darstellt. Dies macht für Einzelanfertigungen durchaus Sinn. Durch ein fundiertes Qualitätsmanagementsystem in der Apotheke muss jedoch für Risikominimierung gesorgt werden – angefangen von der Gefahr möglicher Kontamination im Herstellungsprozess bis hin zu Inkompatibilitäten in der Rezeptur.
Auch für die Verblisterung besteht für außerhalb von Apotheken neu verblisterte Arzneimittel keine Zulassungspflicht. Insbesondere für die Versorgung von Pflegeheimbewohnern werden in Blisterzentren häufig zugelassene Fertigarzneimittel aus ihren Originalverpackungen gelöst und patientenindividuell mit weiteren Medikamenten für den jeweiligen Einnahmezeitpunkt kombiniert. Die entstehenden (Mehr-) Wochenblister sind industriell gefertigte Fertigarzneimittel, die ohne Zulassung an Apotheken geliefert und von diesen ohne Zulassung an die Patienten abgegeben werden dürfen.
Befürworter der Verblisterung sehen in der Gabe therapiegerechter Einzeldosen zum jeweiligen Einnahmezeitpunkt eine Erhöhung der Arzneimittelsicherheit und Verbesserung der Therapietreue. Aber es wird die Authentizität der Originalprodukte aufgehoben und mögliche Kreuzkontaminationen sind meist noch ungeprüft. Auch haftungsrechtlich entsteht eine Grauzone, da sich die Beweissituation des Patienten im Fall einer Schädigung durch ein Arzneimittel deutlich verschlechtert.
Risiko Arzneimittelfehlgebrauch Auch aus einer nicht bestimmungsgemäßen Anwendung ergeben sich öfters Risiken. Zahlen zur Häufigkeit von Neben- oder Wechselwirkungen beruhen in aller Regel auf Hochrechnungen. Meist liegt ihnen nur eine sehr kleine Anzahl tatsächlicher Meldungen von „Verdachtsfällen“ zu Grunde. Der Nachweis, dass ausschließlich das Arzneimittel für aufgetretene Probleme verantwortlich ist, kann häufig nicht erbracht werden. Entweder kommen auch alternative Ursachen in Frage oder es liegen trotz intensiver Recherche nur unzureichende Informationen über den Therapieverlauf vor. So kann der Kausalzusammenhang nicht eindeutig beurteilt werden.
Trotzdem besagen Schätzungen, dass sich das Auftreten von unerwünschten Neben- und Wechselwirkungen um etwa 30 Prozent verringern ließe, wenn sich die Patienten strikt an die Anwendungshinweise in der Packungsbeilage halten würden.
Risiko mangelnde Compliance Die in den Fachinfor - mationen für die Heilberufler und im Beipackzettel für die Patienten aufgeführten potenziellen, häufigen, seltenen oder sehr seltenen Nebenwirkungen der jeweiligen Arzneimittel, sollen warnen und einen Hinweis geben, ob ein eingetretenes unerwünschtes Ereignis auf die Therapie zurückzuführen sein könnte.
Leider wird dieser notwendige und sinnvolle Teil der Packungsbeilage vom Anwender aber überinter pretiert. Die Folge ist, dass dringend notwendige Therapien verweigert oder ohne Rücksprache mit dem Arzt abge brochen werden. Zur Vermeidung von Irrtümern bei der Abgabe und Anwendung von Medikamenten hat der Europarat 2007 einen „Verhaltenskodex“ gefordert, um die Verständlichkeit der Angaben auf Arzneimittelpackungen zu verbessern.
Klinische Studien zeigen, dass eine bessere Prognose existiert, wenn Medikamente wie vorgegeben eingenommen werden. Selbst bei der Einnahme von Placebos ist eine hohe Therapietreue ein positiver Voraussagewert. Wie häufig schwere Nebenwirkungen auftreten, muss daher stets auch ins Verhältnis zum Risiko einer Nicht-Therapie gesetzt werden. Hierdurch wird erst der Nutzen eines Arzneimittels angemessen deutlich. Und es beugt einer mangelnden Akzeptanz der verordneten Therapie vor. Die Folgen einer unbehandelten Grunderkrankung sind oft gravierend. Mangelnde Compliance kann zur Krankheitsprogression bis hin zum Tod führen und potenziert nachweislich die Gesundheitskosten.
Risiko Wechselwirkung Auch bei bestimmungsgemäßer Anwendung kommen unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAWs) vor. Mit der Zahl benötigter Arzneimittel steigt zudem das Risiko für Wechselwirkungen. Hinzu kommt, dass UAWs häufiger ältere Menschen als junge betrifft. Hier kommt die eingeschränkte Fähigkeit des älteren Organismus, Medikamente zu eliminieren und eine zum Teil höhere Sensitivität gegenüber Arzneimitteln hinzu.
Bei schwerwiegenden UAWs, die zu Krankenhauseinweisungen führen, stehen Herz-Kreislauf-Medikamente und Antidiabetika in der Liste ganz oben. Bei Demenzkranken in Heimen weisen Neuroleptika ein hohes UAW-Risiko auf. Die geringe therapeutische Breite von Arzneimitteln wie Digitalisglykosiden oder Diuretika, aber auch Nichtberücksichtigung grundlegender Aspekte der Pharmakotherapie im Alter, wie Beachtung des Körpergewichtes, der Körperzusammensetzung, der Leber- und Nierenfunktion sind neben der Zusatzmedikation (Polymedikation) häufige Ursache für diese UAWs. Zahlen aus internationalen Studien zeigen, dass auch diese UAWs durch richtige Einstellung, also adäquate Dosierung und Gabe zum richtigen Zeitpunkt, zu 30 bis 40 Prozent vermeidbar wären.
Aktionsplan Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) Um flächendeckend eine effiziente Risikoreduktion in der Arzneimitteltherapie zu erreichen, hat das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) zusammen mit der Ärzte-, der Apothekerschaft und weiteren Institutionen einen Aktionsplan Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) 2010 bis 2012 ins Leben gerufen. Dieser basiert auf der erfolgreichen Arbeit des ersten Aktionsplans 2008/2009. Wesentliches Anliegen ist die Vermeidung von auf Medikationsfehlern basierenden UAWs.
Anders ausgedrückt: Die Voraussetzungen für die bestimmungsgemäße Anwendung von Arzneimitteln soll verbessert werden. Hierzu sind 59 Einzelmaßnahmen vorgesehen, an 20 davon ist die Apothekerschaft aktiv beteiligt. Hierzu gehören unter anderem die Erarbeitung inhaltlicher Anforderungen an einen Medikationsplan für Patienten, Anforderungen, die an die EDVgestützte Bereitstellung relevanter Informationen für die Arzneimitteltherapie zu stellen sind sowie die Möglichkeit eine zentralen Datei über Medikationsfehler zu etablieren. Insgesamt sollen Patienten für die Risiken einer Arzneimitteltherapie und für ihre Verantwortung bei der Risikominimierung besser sensibilisiert werden.
Schwierige Haftungsfrage Zusätzlich stellt sich die Frage nach der Haftung bei Schäden aus Neben- und Wechselwirkungen von Arzneimitteln. Neben der Eigenverantwortung des Patienten ist insbesondere die Haftung des pharmazeutischen Herstellers und des verschreibenden Arztes evident. Wer verantwortlich ist, wird häufig am Begriff des „bestimmungsgemäßen Gebrauchs“ festgemacht.
Die Verwendung gemäß den vom Hersteller abgegebenen Gebrauchsangaben, wie sie im Beipackzettel stehen, ist bestimmungsgemäß. Der Beipackzettel muss nach § 11 Abs. 1 AMG Anwendungsgebiete, Gegenanzeigen, Dosierung und Art der Anwendung sowie gegebenenfalls ihrer Dauer enthalten. Erfolgt die Anwendung dagegen außerhalb der Zulassung als „Off-Label-Use“, entfällt im Grundsatz die Haftung des pharmazeutischen Unternehmers. Eine mögliche Haftung des Arztes bleibt davon unberührt. Allerdings soll nach aktueller Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes auch ein Gebrauch außerhalb der Zulassung dann noch bestimmungsgemäß sein, wenn er sich aus Sicht der einschlägigen Verkehrskreise als bestimmungsgemäß darstellt.
Faktisch handelt es sich bei der Frage nach Haftung und Entschädigung um ein juristisch sehr diffiziles Gebilde. Dennoch sollen die Patientenrechte gestärkt werden. Dies wird auch in dem Rechtsanspruch auf Entschädigung für Opfer eines Arzneimittelschadens deutlich, wenn ein schuldhaftes Verhalten weder im Verantwortungsbereich des Herstellers noch der Zulassungsbehörde liegt.
Resümee In den letzten Jahrzehnten wurde der Schutz vor Arzneimittelrisiken durch fortlaufende Optimierung der Sicherheitssysteme wesentlich erhöht. Um die Pharmakovigilanz effizienter zu gestalten wird auch an der Errichtung von gemeinsamen europäischen Datenbanken zur zentralen Erfassung von Pharmakovigilanz- sowie von pharmakoepidemiologischen Daten gearbeitet. Größere Zwischenfälle sind – dank kontinuierlicher Überwachung – schon lange nicht mehr aufgetreten.
ZUSATZINFORMATION
Eine Tabelle mit den bekannten Marktrücknahmen des letzten Jahrzehnts finden Sie hier.
Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 12/11 ab Seite 48.
Dr. Eva-Maria Stoya, Apothekerin, Journalistin