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Seuchen der Welt

DIE 'SPINALE LÄHMUNG'

Poliomyelitis ist eine entsetzliche Krankheit, die im 20. Jahrhundert viele Menschen dauerhaft körperlich schädigte. Vor allem Kinder waren von ihr betroffen.

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Die Seuche kam mit der Sauberkeit. Der britische Medizinhistoriker Rowan Wilson nannte sie eine „Krankheit des Wasserklosetts, des Cellophans und der Tiefkühlkost“. Die Poliomyelitis und, weil sie vorwiegend Kinder heimsuchte, auch Kinderlähmung genannte Erkrankung, ist zwar seit 1400 v. Chr. bekannt. Eine ägyptische Steintafel zeigt einen jungen Priester mit Krücke und einem verkürzten, missgebildeten Bein, wie es typisch für Kinderlähmung ist. Auch Hippokrates und Galen (um 129 bis 215 n. Chr.) haben in ihren Schriften Klumpfußdeformationen beschrieben.

Aber all dies waren Einzelfälle. Eine etwas größere Fallanzahl gibt es erst seit dem 17./18. Jahrhundert. Doch auch dies waren zunächst – anders als bei Grippe, Pocken oder Pest – noch keine Epidemien. 1831 bis 1835 kommt es auf der Insel St. Helena zu einem größeren überlieferten Ausbruch von Kinderlähmung. Kleinere Epidemien in England und den USA folgen.

Doch erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts breitete sich die Kinderlähmung als paradoxe Folge der sich verbessernden hygienischen Lebensweisen und damit nachlassender Immunität gegen Schmutz in bedrohlichem Umfang aus.

Die Krankheitszeichen Auslöser ist ein Poliovirus (Typ I, II und III), der zur Gruppe der Enteroviren gehört und bevorzugt durch ungewaschene Hände, verunreinigte Lebensmittel oder fäkalienverschmutztes Trinkwasser übertragen wird (Schmierinfektion; fäkal-orale Übertragung). 90 bis 95 Prozent der Infektionen verlaufen symptomlos.

In etwa 5 Prozent der Fälle (= abortive Poliomyelitis) kommt es zu einem kurzen grippeähnlichen Krankheitsverlauf mit Fieber, Übelkeit, Hals-, Kopf- und Muskelschmerzen, der nach einigen Tagen ausheilt. Dringt das Virus aber ins Zentralnervensystem vor, führt dies zu Muskelabbau und Lähmungen. Bei etwa ein bis zwei Prozent der Infizierten tritt nach einigen beschwerdefreien Tagen erneut hohes Fieber auf, begleitet von heftigen Kopf- und Gliederschmerzen, Nackensteifigkeit sowie allgemeiner Muskelschwäche (meningitisches Stadium).

Weniger als ein Prozent macht tatsächlich die dritte Phase (paralytisches Stadium) durch mit plötzlich auftretenden Lähmungen an den unteren Extremitäten, die auf die Zwerchfell- und Atemmuskulatur übergreifen können. Tod durch Atemlähmung kann dann Folge sein. Der Name Poliomyelitis (griechisch: polio = grau; myelos = Substanz) bezieht sich dabei auf die Entzündung der Nervenzellen der „grauen Substanz“ im Rückenmark. Bei den meisten Betroffenen bilden sich die Lähmungen innerhalb eines Jahres zurück, jedoch können sie sowie auch Muskelschwäche, Gelenksteife und Wachstumsstörungen der betroffenen Extremitäten als Spätschäden zurückbleiben.

In manchen Fällen kommt es noch Jahrzehnte nach einer Erkrankung zum Postpoliomyelitissyndrom (PPS) mit Muskel- und Gelenkschmerzen, Muskelschwäche sowie schneller Ermüdbarkeit oder fortschreitender Verschlechterung vorhandener muskulärer oder neurologischer Symptome. Eine ursächliche Therapie existiert bis heute nicht. Nach durchgemachter Erkrankung besteht lebenslange Immunität.

Drastische Gegenmaßnahmen In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war es jedoch genauso schwierig, den Überlebenden der Kinderlähmung zu helfen als auch deren Ursachen zu verstehen. Das Wissen über die Erkrankung war marginal. Der schwedische Kinderarzt Karl Oskar Medin (1847 bis 1927) postulierte erst 1887 im Rahmen einer schwedischen Epidemie, Polio sei eine ansteckende Krankheit, was der österreichische Biologe und Arzt Karl Landsteiner (1868 bis 1943) auch im Affenversuch 1908/1909 bewies.

In Europa und den USA wurden regionale Epidemien alle fünf bis sechs Jahre beobachtet, vorzugsweise in den Sommermonaten. 1916/17 wütete in den USA dann die schlimmste Polioepidemie der Geschichte. Allein in New York wurden 9000 Fälle gemeldet, landesweit über 27 000 mit über 6000 Toten, hauptsächlich Kinder. Da der Ausbreitungsweg der Krankheit unbekannt war, wurden unter anderem Straßensperren aufgestellt, die Kindern den Zugang zur Stadt New York versperrten, Isolationsstationen aufgebaut, Quarantäne verhängt, Warnplakate aufgestellt und die allgegenwärtige Stubenfliege als möglicher Übertragungsvektor bekämpft.

Die hilflosen Ärzte empfahlen Massagen und Bewegung der betroffenen Gliedmaßen, andere Gipsverbände, Beinschienen, Regenwurmöl oder das Bad im Ochsenblut. Überlebende verbrachten den Rest ihres meist kurzen Lebens in „Beinschienen“ oder Korsetts. Im New Yorker Rockefeller-Institut entdeckte und beschrieb Simon Flexner (1863 bis 1946) aber 1916 auch erstmals den Polio-Erreger. Ein riesiges mechanisches Beatmungsgerät, die „eiserne Lunge“, half erst ab 1927/28 in Krankenhäusern Betroffenen gegen die Atemlähmung.

ZUSATZ-INFORMATIONEN
Die sinnvolle Bekämpfung
Wohl das bekannteste Kinderlähmungs-Opfer wurde 1921 mit schon 39 Jahren der spätere Präsident Franklin D. Roosevelt. In einer „Nationalen Stiftung für Kinderlähmung“, der ersten öffentlichen Gesundheitsorganisation der USA, die auf Spenden der Öffentlichkeit beruht („March of Dimes“), bündelte er ab 1938 Anstrengungen und Kampf gegen die Kinderlähmung.

1952 ermöglichte die Einführung der Viruskultur (1948/49) durch John Enders (1897 bis 1985) die Entwicklung eines inaktivierten (Tot)-Impfstoffes durch den amerikanischen Arzt Jonas Salk (1914 bis 1995). Der in großem Umfang getestete Impfstoff geriet 1955 – wohl aufgrund Produktionsfehlern wurde Impfstoff mit Viren in nicht abgeschwächter Form verimpft („Cutter-Katastrophe“) – in Misskredit.

1960/61 brachte der amerikanische Wissenschaftler Albert Sabin (1906 bis 1993) nach erfolgreichen Versuchen in der UDSSR einen Lebendimpfstoff (Schluckimpfung) heraus, die sich auch im Westen zunächst durchsetzte.

Zwar gilt Amerika seit 1994, Europa dank eines hohen Durchimpfungsgrades der Bevölkerung seit 2002 als poliofrei, doch weltweit ist das Virus noch nicht ausgerottet. In Nigeria, aber auch Indien, Pakistan und Afghanistan ist sie sogar wieder auf dem Vormarsch. Deshalb empfiehlt die Ständige Impfkommission (STIKO) seit 1998 zur Vorbeugung die Schutzimpfung mit abgetöteten Viren (Inaktivierte Polio Vakzine = IPV, Injektionsimpfung nach J. E. Salk).

Die Schluckimpfung mit abgeschwächten Lebendviren (Orale Polio-Vakzine = OPV) – die jahrzehntelang durchgeführt wurde – wird nicht mehr empfohlen, weil sie, wenn auch sehr selten, zu Kontaktinfektionen nichtgeimpfter Personen führen kann.

Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 09/13 ab Seite 88.

Dr. Eva-Maria Stoya, Apothekerin / Journalistin

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