Arzneimitteltherapiesicherheit
TABUTHEMA MEDIKATIONSFEHLER
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Die Zahlen sind erschreckend: Rund 2500 Tote und etwa 250000 Krankenhauseinweisungen sowie Kosten in Höhe von rund einer Milliarde Euro. Das sind die geschätzten jährlichen Folgen von Medikationsfehlern in Deutschland. Gesammelt hat diese Werte der Wort & Bild Verlag. Kein einfaches Unterfangen, denn es existiert keine wirklich belastbare Gesamtstatistik. Es gibt zwar diverse Systeme, an die Medikationsfehler gemeldet werden können. Generell verpflichtend ist es aber nicht, dies auch zu tun (eine solche Pflicht gibt es nur für Ärzt*innen).
Zudem: Kaum einer redet gern drüber. Und häufig steht dann die Suche nach einem oder einer “Schuldigen“ im Fokus – statt Lösungen zu finden, damit Medikationsfehler schnell bemerkt werden oder gar nicht erst entstehen. Genau das wollen Vertreter verschiedener Gesundheitsberufe erreichen: „Über Medikationsfehler reden – Menschenleben retten“, so das Motto der Initiative des Wort & Bild Verlages, die Anfang Juli 2024 im Rahmen einer Pressekonferenz vorgestellt wurde.
Wo passieren Medikationsfehler?
Mehr Aufmerksamkeit für das Thema soll helfen, eine bessere Fehlerkultur zu etablieren – und zwar bei allen Beteiligten. Medikationsfehler passieren…
- bei der Verschreibung (28 % der Fehler),
- bei der Abgabe der Arzneimittel (24 %)
- bis hin zur Einnahme durch die Patient*innen (30 %).
Das ergab eine Analyse der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, die ein Meldesystem für Medikationsfehler betreibt und die Meldungen über zwei Jahre hinweg (2016-2018) analysiert hat. Die annähernd gleiche Verteilung der Fehlerhäufigkeit zeigt, dass neben den Patient*innen auch alle beteiligten Gesundheitsberufe gleichermaßen betroffen sind: verordnende Ärzt*innen ebenso wie abgebende Apothekenteams oder Pflegende in Kliniken und Pflegeeinrichtungen.
Allerdings spielen die Apotheken eine zentrale Rolle, wenn es darum geht, Medikationsfehler zu vermeiden: Vor allem im nicht-stationären Bereich sind es oft die Apothekenteams, die Fehler entdecken und in der Regel auch gleich beheben.
Die häufigsten Fehlerquellen
Medikationsfehler sind kein neues Problem. Allerdings nehmen Anzahl und Fehlerhäufigkeit in den letzten Jahren zu. Das BfAM (Bundesinstitut für Arzneimittel) wertet seit 2014 Meldungen zu arzneimittelbezogenen Problemen systematisch aus und berichtet über jährliche Steigerungsraten von rund 40 Prozent.
Einer der Gründe für den dramatischen Anstieg an Medikationsfehlern ist, dass die Fälle konsequenter gemeldet werden. Ein anderer ist die stetig steigende Zahl neuer Arzneimittel und neuartiger Therapien, bei denen man noch nicht alle Nebenwirkungen oder Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten kennt.
Die häufigsten Medikationsfehler sind laut BfArM Dosierungsfehler, die bei der Verschreibung, der Zubereitung, der Abgabe oder auch bei der Einnahme passieren können. Auf Platz zwei der Ursachen: ähnlich aussehende oder klingende Arzneimittel (so genannte Lookalikes und Soundalikes, LASA). Zu beiden hat das BfArM in seinen regelmäßigen Bulletins detaillierte Informationen veröffentlicht, die auch Tipps zum richtigen Melden von Fehlern geben.
Welche Arten von Medikationsfehlern gibt es?
Häufige Szenarien bei Medikationsfehlern sind:
- Doppelverordnungen, bei denen für die gleiche Indikation zwei verschiedene Präparate verschrieben werden – mitunter von zwei verschiedenen Ärzt*innen oder bei verschiedenen Handelsnamen. Patient*innen denken dann oft, sie müssten beide Präparate einnehmen und es kommt unter anderem zu Überdosierungen. Häufig wird der Medikationsfehler in der Apotheke erkannt, vor allem bei Stammkund*innen. Das kann dann im direkten Gespräch mit der verordnenden Praxis aufgeklärt werden. “Die Apotheken sind damit ein Schutzschild für die Patienten, flächendeckend, wohnortnah und niedrigschwellig“, sagt ABDA-Präsidentin Gabriele Regina Overwiening.
- Dosierungsfehler können insbesondere bei Rezepturarzneimitteln entstehen, von denen in deutschen Apotheken jedes Jahr rund 11 Millionen hergestellt werden – oft von PTA. Dabei prüfen Apotheken, ob die Verordnung plausibel ist. Overwiening berichtet von einem Beispiel, in dem die Dosierung für zwei Wirkstoffe in einem Präparat für einen Säugling versehentlich vertauscht wurde. In der Apotheke ist der Medikationsfehler aufgefallen und die Rezeptur in Rücksprache mit der Praxis korrigiert worden. „So etwas klären wir kollegial mit den Ärzten im Hintergrund, ohne die Patienten zusätzlich zu verunsichern“, so Overwiening.
- Missverständliche oder falsche Angaben können auch bei Fertigarzneimitteln zu Medikationsfehlern führen. Overwiening berichtet von einem Fall, bei dem ein Patient aufgrund eines Lieferengpasses ein anderes Medikament als gewohnt verordnet bekam. Weil auf den Tabletten die Zahl 75 aufgeprägt war, vermutete der Patient, das sei die Dosierung des Wirkstoffs und nahm zwei Tabletten, da sein Arzt ihm eine Dosis von 150 Milligramm verordnet hatte. Der Patient kam nach einigen Tagen in die Apotheke, weil er sich nicht wohlfühlte. Dort konnte die Ursache geklärt und behoben werden. Für Overwiening ein klarer Beweis, wie wichtig die Beratung in der Apotheke ist, weil Medikamente nun mal keine x-beliebigen Waren sind.
Keine Absicht:Offene und lernende Sicherheitskultur bei Medikationsfehlern
Die Beispiele zeigen: Medikationsfehler passieren in aller Regel unbeabsichtigt. Das ist wichtig, wenn es um Gegenmaßnahmen geht. Die nämlich müssen bei den Ursachen ansetzen. Routine zum Beispiel oder Zeitdruck. Bei immer gleichen Abläufen geht schnell mal ein Prozessschritt unter oder es wird eine Angabe vertauscht.
Die Fehlerhäufigkeit steigt auch, wenn mehrere Medikamente im Spiel sind (Polymedikation) oder wenn Sprach- und Verständnisprobleme bestehen. Zudem erhöht die ständig steigende Zahl neuer Arzneimittel das Risiko für Medikationsfehler. Ein Problem, das sich mit zunehmender Individualisierung von Therapien verschärfen wird.
Ärzt*innen könnten sich häufig schon jetzt kaum adäquat über die Wirkung neuer Medikamente informieren und brauchten deshalb die Kommunikation mit den Apotheken, berichtet Professor Dr. Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Ludwig plädiert deshalb für eine konsequente Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Gesundheitsberufen, um Medikationsfehlern entgegenzuwirken.
Faktoren, die Medikationsfehler begünstigen
Offen reden – und lernen
Damit die Beteiligten aus Medikationsfehlern lernen können, muss offen darüber geredet werden – ohne berufsbezogene Eitelkeiten, aber auch ohne Schuldzuweisungen. Für Ludwig gehört dazu auch, das Pharmakovigilanz-System stärker zu nutzen. Etwa die Meldesysteme von Ärzteschaft und BfArM oder das CIRS-System, über das kritische Ereignisse und Beinahe-Schäden durch Medikationsfehler anonym gemeldet werden können.
Medikationsfehler melden
Die besten Fehler sind die, die gar nicht erst entstehen. Dafür müssen möglichst viele wissen, wie Fehler entstehen – und wie man sie vermeiden kann. Aktuell gibt es kein bundeseinheitliches System für die Meldung von arzneimittelbezogenen Problemen. Die wichtigsten sind:
- Im Meldesystem der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft können Sie neben unerwünschten Nebenwirkungen (UAW) auch Medikationsfehler melden (gesonderte PDF-Formulare).
- Freiwillig und anonym können Sie Medikationsfehler auch über sogenannte CIRS-Meldungen anzeigen. CIRS ist die Abkürzung für Critical Incident Reporting System – Berichtssysteme, die ursprünglich in der Luftfahrt eingesetzt werden, um aus Fehlern und Beinahe-Fehlern zu lernen. In Deutschland haben sich CIRS-Systeme auf Bundesländerebene etabliert.
- Darüber hinaus haben Kliniken und Pflegeeinrichtungen oft eigene Meldesysteme, die zum bis auf Stationsebene den individuellen Bedürfnissen der jeweiligen Einrichtung angepasst sind.
Aber auch Checklisten, Medikationspläne und Beratungsangebote in den Apotheken (Medikationsanalyse, erweiterte Medikationsberatung) können helfen, Medikationsfehler zu entdecken und zu vermeiden. (Eine solche Checkliste für Ihr Apothekenteam können Sie weiter unten herunterladen.)
Und schließlich erwarten viele Expert*innen, dass die Digitalisierung des Gesundheitssystems die Arzneimitteltherapiesicherheit verbessert. Zum Beispiel weil Medikationspläne dann in der elektronischen Patientenakte hinterlegt und damit für die Beteiligten auch schnell verfügbar sind. Ein weiterer Aktionspunkt ist die konsequente Einbindung des Themas Medikationsfehler in die Aus- und Weiterbildung von Ärzten, Apothekenteams und Pflegepersonal.
Das große Ziel der im Juli gestarteten Initiative gegen Medikationsfehler ist es, eine Sicherheitskultur zu etablieren, die permanent Schwachstellen im fehleranfälligen System der Arzneimitteltherapie aufdeckt und dafür sorgt, dass die Beteiligten daraus lernen. Das wird Zeit brauchen – und vor allem konsequentes Engagement. Und zwar von jedem und jeder Einzelnen im Gesundheitswesen.
PDF zum Download: Checkliste Arzneimittelbezogene Probleme identifizieren