Repetitorium
AD(H)S – TEIL 1
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Ist dies nicht eher eine reine „Modekrankheit“ unserer immer schnelllebigeren Gesellschaft? Tatsächlich hat sich ADS in der Öffentlichkeit, aber auch in Pädagogik, Psychologie und sogar bei einzelnen Krankenkassen zu einer der umstrittensten Störungen des Kindes- und Jugendalters (dass auch Erwachsene betroffen sein können, wird meist erst gar nicht erwähnt) entwickelt. Überall wird davon geredet, heftige Richtungskämpfe ausgefochten. Auch die Medien stiften immer wieder gerne durch Mischung von geschickt recherchierten Sendungen und reinen Sensationsshows ohne sachlichen Hintergrund noch mehr Verwirrung.
Realistisches Gesamtbild Das große Interesse an dem Themengebiet hängt mit dem Umstand zusammen, das AD(H)S momentan das häufigste kinderpsychiatrische Krankheitsbild mit weit reichenden Konsequenzen für den weiteren Lebensweg der betroffenen Kinder und deren Familien ist. Mittlerweile ist allerdings auch gut belegt, dass das Störungsbild bis ins Erwachsenenalter weiterbesteht. Die langjährige Lehrmeinung, dass sich diese Störung im Erwachsenenalter auswächst, wurde durch Studien widerlegt.
AD(H)S ist keine Modekrankheit, es gibt sie bereits seit Jahrzehnten. Schon 1908 beschrieb der Leibarzt Kaiser Napoleons I, Dr. Haslam, ein „moralisch krankes Kind, Sklave seiner Leidenschaft, Schrecken der Schule, Qual der Familie, Plage der Umgebung“. Und wem ist nicht das Buch „Der Struwwelpeter“ bekannt, in dem der Frankfurter Psychiater Heinrich Hoffmann (1809 bis 1894) typische Erscheinungsbilder hyperkinetischer Kinder wie den „Zappelphilipp“, den „fliegenden Robert“, „Hans guck in die Luft“ oder den „bösen Friedrich“ eindrucksvoll, treffend, aber auch humorvoll darstellte.
1937 berichtete schließlich der Psychiater Dr. Charles Bradley (1902 bis 1979) erstmals über die hilfreiche Wirkung von Stimulanzien auf verhaltensauffällige Kinder. In den Jahren nach der ersten Beschreibung Bradleys befassten sich anfangs Kinderärzte und -psychiater, später Kinderpsychologen intensiver mit dem „Krankheitsbild“. Es fand zunächst in den USA, später über Neuseeland, Holland (Niederlande), England und Skandinavien auch Mitte der 1960er Jahre in Deutschland Beachtung.
»Schon 1908 beschrieb der Leibarzt Kaiser Napoleons I, Dr. Haslam, ein ‚moralisch krankes Kind, Sklave seiner Leidenschaft, Schrecken der Schule, Qual der Familie, Plage der Umgebung.«
1985 erschien das erste deutschsprachige Buch „Unkonzentriert? Hilfen für hyperaktive Kinder und Eltern“ des Münchner Kinderarztes Dr. Walter Eichlseder. Inzwischen ist die Zahl der Veröffentlichungen aus allen Teilen der Welt so groß, dass eine Literaturrecherche selbst nur bei den namhaften wissenschaftlichen Blättern monatlich gut 200 „neue“ Arbeiten umfasst.
Definition und Verbreitung Das Aufmerksamkeits-Defizit-( Hyperaktivitäts)-Syndrom ist eine vor allem bei Kindern auftretende Verhaltensstörung, die mit starken Konzentrationsproblemen, motorischer Hyperaktivität und gesteigerter Erregbarkeit einhergeht. Die motorische Hyperaktivität ist dabei ein rein fakultatives Symptom, muss also nicht vorhanden sein. Den nicht hyperaktiven Typ (Träumer) gibt es wahrscheinlich ebenso häufig. Hier sind Mädchen und Jungen gleichermaßen betroffen, während es beim vorwiegend hyperaktiven-impulsiven Typ deutlich mehr Jungen sind. Meist kommen zusätzlich Störungen des Sozialverhaltens hinzu.
Ausprägung und Verteilung der verschiedenen Symptome variieren insgesamt deutlich – selbst innerhalb einer Person mit zunehmendem Alter der Betroffenen. Insgesamt tritt eine AD(H)S statistisch gesehen recht häufig auf. Im Kindesalter stellt sie sogar die häufigste seelische Störung dar. Die Angaben zur Häufigkeit unterscheiden sich allerdings deutlich – in Abhängigkeit von den zugrunde gelegten Diagnosekriterien.
Etwa drei bis neun Prozent (amerikanischer Diagnose-Schlüssel, DSM-IV-Kriterien) beziehungsweise vier bis 15 Prozent (Diagnoseschema der Weltgesundheitsorganisation WHO, ICD-10-Kriterien) aller schulpflichtigen Kinder zeigen Symptome im Sinne einer Aufmerksamkeitsdefizit- Hyperaktivitäts-Störung (ADHS), so immer wieder veröffentlichte Zahlen. Eine kürzlich publizierte Studie des Versorgungsatlasses (hier lagen die Abrechnungs- und Arzneiverordnungsdaten von sieben Millionen Kindern / Jugendlichen der Jahre 2008 bis 2011 zugrunde) und der Ludwig-Maximilians-Universität München kommt zu folgenden Zahlen:
Kinder, die erst kurz vor dem Stichtag zur Einschulung sechs Jahr alt wurden, erhielten zu 5,3 Prozent im Laufe der folgenden Jahre die Diagnose ADHS, bei den rund ein Jahr älteren Kindern waren es in der Studie „nur“ 4,3 Prozent. Tatsächlich sind Aufmerksamkeitsfähigkeit sowie die Fähigkeit zur Impulskontrolle entwicklungsabhängig. Jüngere Kinder haben durchschnittlich immer eine weniger lange Aufmerksamkeitsspanne.
Dass früh eingeschulte Kinder häufiger die Diagnose ADHS erhalten als ihre älteren Klassenkameraden macht stutzig, dürfe allerdings nicht als Beleg interpretiert werden, dass jüngere Kinder komplett unauffällig wären, würden sie später eingeschult, stellte Professor Tobias Banaschewki, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, zur Studieninterpretation klar.
Es werde lediglich deutlich, dass das negative Verhalten bei den Jüngeren ausgeprägter sei, dadurch die Wahrscheinlich einer entsprechenden Diagnose steige. So existieren mittlerweile Vorschläge weiter zu untersuchen, ob eine flexiblere Einschulungspolitik den Zusammenhang zwischen Alter des Kinder und ADHS-Diagnose abmildern kann und damit die Gefahr möglicher Fehldiagnosen sinkt. Bis zu 60 Prozent dieser AD(H)S-Kinder erfüllen die diagnostischen Kriterien in unterschiedlicher Ausprägung auch noch im Erwachsenenalter.
Schwierige Diagnose Im Brennpunkt der öffentlichen Wahrnehmung steht seit einigen Jahren demzufolge deutlich die Diagnosestellung. Die Feststellung einer AD(H)S sollte in sehr verantwortlicher Weise am besten von Kinder- und Jugendpsychiatern in Zusammenarbeit mit Psychologen oder auch – da Erstere den Bedarf bei Weitem nicht abdecken können – durch besonders ausgebildete Pädiaters erfolgen.
Wenn Eltern betroffener Kinder die Praxis eines Kinderarztes, besser noch eines Kinder- und Jugendpsychiaters zwecks Hilfe aufsuchen, sind es in der Regel zwei Hauptproblembereiche, die ihnen und den Kindern das Leben schwer machen. Zum einen sind dies Verhaltensprobleme, etwa ausgeprägte motorische Unruhe, Dominanzstreben, geringe Frustrationstoleranz, Unfähigkeit richtig zu spielen, viele Auseinandersetzungen, im Klassenzimmer Unruhestifter. Mit Gleichaltrigen und Geschwistern gibt es viele Schwierigkeiten, Eltern wissen nicht mehr weiter, Mütter fühlen sich zum Teil völlig überfordert.
ÜBERGREIFEND
Um AD(H)S bei Kindern und Jugendlichen wirkungsvoll zu begegnen, ist eine gute Zusammenarbeit der verschiedenen Berufsgruppen wie der Ärzte, Pädagogen, Psychologen, Lehrer, aber auch der Apotheker samt ihrer Mitarbeiter unterlässlich. Eine gelungene Kooperation setzt voraus, dass die unterschiedlichen Blickwinkel auf das Störungsbild in Diagnostik und Therapie miteinander in Einklang gebracht werden. Dies ist ein insgesamt schwieriges Unterfangen und ein permanent laufender, sich hoffentlich stetig verbessernder Prozess.
Zum anderen sind es Lern- und Leistungsprobleme, die Eltern und Kinder verzweifeln lassen. Trotz normaler Intelligenz mehren sich schon zu Beginn der Grundschulzeit Misserfolge und Frustrationen, Leistungsdefizite in den Grundfertigkeiten Lesen, Schreiben, Rechnen entstehen. Die besondere Ausgangslage der Kinder, etwa die begrenzte Kapazität ihres Kurzzeitgedächtnisses, ihre kurze Aufmerksamkeitsspanne, ihre geringe Motivation für „langweilige Lerninhalte“, häufig eine auffallende Langsamkeit bei der Aufgabenlösung, ihre niedrige Frustrationstoleranz, ihre hohe Impulsivität sowie vielfach graphomotorische Probleme (schlechtes Schriftbild) führen zu schulischem Misserfolg, Vermeidungsverhalten und großen Lerndefiziten.
Die Diagnose der AD(H) S selbst ist sehr komplex. Zu einer aussagekräftigen Diagnostik gehört eine neurologische Untersuchung (einschließlich Elektroenzephalogramm, EEG), die Überprüfung von Fein- und Grobmotorik, die Erhebung der Anamnese und der störungsspezifischen Entwicklung des Kindes (Interviews beziehungsweise standardisierte Fragebögen und validierte Checklisten mit Erziehungsberechtigen, Lehrern), eine umfassende Leistungsdiagnostik mit Überprüfung der intellektuellen Möglichkeiten sowie Feststellung von eventuell vorhandenen Teilleistungsstörungen.
Eine testpsychologische Erfassung der emotionalen Situation des Kindes, ausreichende Kenntnisse über die familiäre Situation, Erziehungskompetenzen der Eltern und der bisherige schulische Werdegang des Kindes sind ebenfalls einzubeziehen. Nach ICD-10 müssen für die Diagnose einer Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung sowohl Aufmerksamkeitsdefizite als auch Hyperaktivität und Impulsivität vorliegen.
Nach dem Amerikanischen-Diagnose- Schlüssel DSM-IV (Diagnostisches und Statistisches Manual psychischer Störungen) werden hingegen drei Typen unterschieden:
- Mischtyp, bei dem sowohl Aufmerksamkeitsdefizit als auch Hyperaktivität und Impulsivität vorhanden sind (ADHS),
- vorwiegend unaufmerksamer Typ, bei dem Hyperaktivität und Impulsivität augenfällig nicht ausgeprägt sind (ADS),
- vorwiegend hyperaktiv-impulsiver Typ, bei dem das Aufmerksamkeitsdefizit im Hintergrund steht, also nicht beziehungsweise nicht besonders stark ausgeprägt ist.
Damit findet auch der vorwiegend unaufmerksame Subtyp (ADS) die klinisch notwendige diagnostische und therapeutische Berücksichtigung. Diese Patienten würden mit der strengeren Definition nach den ICD-10-Kriterien nicht erfasst, da dabei in allen drei Bereichen – Aufmerksamkeit, Hyperaktivität, Impulsivität – Probleme vorhanden sein müssen. Der rein hyperaktiv-impulsive Typ kommt, so viele Experten, praktisch so gut wie nicht vor.
Der nur unaufmerksame Typ (ADS, Träumer) wird zahlenmäßig bis heute unterschätzt, da er seltener dem Arzt vorgestellt wird und die Diagnosestellung zudem erschwert ist. Nicht zu unterschätzen ist in der Differentialdiagnostik zudem die häufige Vergesellschaftung von AD(H)S mit weiteren Problemfeldern (ADHS assoziierte Störungen). In der wissenschaftlichen Literatur wird insbesondere das gemeinsame Auftreten zusammen mit Lese/Rechtschreibschwächen beziehungsweise -störungen (LRS), Rechenschwäche/-störung, Tic-Störungen oder auch des Autismus-Spektrum (etwa Asperger Syndrom) häufig beschrieben.
Erstes Fazit AD(H)S ist keine „Modekrankheit“. Zu häufig diagnostiziert wird ADHS allerdings sicherlich. Doch wirklich Betroffene brauchen eine angemessene psychologische und pharmakologische Therapie. Den Ursachen der Störung sowie der AD(H)S-Therapie widmen sich die Repetitoriumsteile zwei und drei. Und auch hier gilt: Besonders die pharmakologische Behandlung der betroffenen Kinder und Jugendlichen wird in der Öffentlichkeit, aber auch in Teilen der medizinischen und psychologischen Fachwelt äußerst kontrovers und gerne emotional diskutiert.
ZUSATZINFORMATIONEN
Erwachsene AD(H)Sler
Dass sich die Störung mit dem Erwachsenwerden generell „auswächst“, ist eine immer noch in vielen Köpfen verankerte Fehlannahme. Allerdings gehen mit der Reifung des Gehirns die Symptome bei etwa zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen soweit zurück, dass sie keine weitere Behandlung mehr benötigen. Ein Drittel hat auch im Erwachsenenalter noch klinisch relevante Symptome. Schätzungsweise sind im Bevölkerungsschnitt somit gut zwei Prozent aller Erwachsenen von AD(H)S betroffen.
Da früher das Überleben eines Kindes im Vordergrund stand und „Abweichungen von der Norm“ erst einmal zweitrangig waren oder eher als „Schwarze Schafe der Familie“ tituliert wurden, sind viele „ADHSler“ mittlerweile erwachsen und bis heute nicht erkannt / diagnostiziert. AD(H)S ist bei Erwachsenen wiederum deutlich schwerer zu erkennen als bei Kindern. Mit zunehmendem Alter rückt die Hyperaktivität deutlich in den Hintergrund, äußert sich eher in starker innerer Unruhe, Rastlosigkeit und Nervosität, die Impulsivität ist etwas gebremster. Probleme machen den Erwachsenen viel eher Konzentrationsdefizite und die vielen Komorbiditäten. Häufig kommen Sucht, Depressionen oder Persönlichkeitsstörungen hinzu.
Die Anpassungsprobleme vermischen sich also vielfach mit anderen psychischen Symptomen. Chaos, ein unorganisierter Alltag, Unpünktlichkeit, „Aufschieberitis“, ständige Stimmungsschwankungen, Jähzorn, Beziehungsunfähigkeit, zumindest deutliche Unbeständigkeit bei sozialen und auch beruflichen Bindungen, ein stark vermindertes Selbstwertgefühl, Ängste sind häufig beschriebene Symptome.
Bei erwachsenen AD(H)S-Patienten wurden so viel häufiger als in der Normalbevölkerung Arbeitsplatzverluste und Stellenwechsel, Partnerschaftskrisen, finanzielle Probleme, Alkohol- Nikotin- und Drogensucht, Suizidversuche, Vorstrafen und Krankenhausaufenthalte, sexuell übertragbare Krankheiten oder unerwünschte (Teenager)Schwangerschaften registriert. Zumeist haben sie ein niedrigeres Einkommen sowie signifikant mehr Fehltage. Insbesondere Berufe, die eine hohe Dauerkonzentration erfordern, eine hohe Entscheidungsdichte aufweisen, wenig Abwechslung bieten, aus vorwiegend sitzender Tätigkeit bestehen und einen hohen Abstimmungsgrad mit Kollegen erfordern sind schwierig.
Ebenso neigen ADHS-Betroffene verstärkt zu Auto- und Arbeitsunfällen. Das Sterberisiko ist insgesamt deutlich erhöht. So ergaben im Fachjournal „The Lancet“ veröffentlichte Auswertungen, dass Patienten mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) eine niedrigere Lebenserwartung haben. Im Kindes / Jugendalter ist das Sterberisiko zweimal so hohes, bei ADHS-Patienten, die ihre Diagnose erst im Erwachsenenalter bekamen sogar viermal so hoch wie bei gleichaltrigen Menschen ohne diese Verhaltensstörung.
Das internationale Klassifikationsschema ICD-10 wie auch die US-amerikanische Einteilung DSM-IV sind für die Diagnosestellung primär auf Kinder- und Jugendliche zugeschnitten. Deshalb wurde die Wender-Utah-Rating-Scale (WURS-K) für Erwachsene entwickelt und an deutsche Verhältnisse angepasst. Es handelt sich hierbei um ein Verfahren zur retrospektiven (rückblickenden) klinischen Einschätzung einer ADHS-Problematik im Kindesalter.
Sieben Merkmale sind ausschlaggebend, von denen die ersten beiden erfüllt sein müssen sowie mindestens zwei der übrigen fünf: Aufmerksamkeitsstörung bei fehlender Stimulation, Hyperaktivität, Affektlabilität, desorganisiertes Verhalten, gestörte Affektkontrolle, Impulsivität sowie emotionale Überreagibilität.
Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 10/15 ab Seite 86.
Dr. Eva-Maria Stoya, Apothekerin / Journalistin